Charity am Herd

Walter el Nagar ist kein Küchenchef wie viele. Neben zeitgeist­-orientierter Kochkunst bietet er im Refettorio in Genf soziales Engagement und eine kompromisslose Null­-Abfall-­Politik.
Text: Patricia Engelhorn – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 29.08.2022 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2022

Walter el Nagar ist kein Freund von zarten Aromen.

Als der Teller geleert ist, kommt ein Schriftzug zum Vorschein: «Buon cibo per tutti», steht da. Der Satz umschreibt die ganze Philosophie des Restaurants Refettorio, das im Februar in Genfs angesagtem Industrieviertel Charmilles eröffnet hat und sich sowohl als Gourmetlokal als auch als soziales Projekt versteht: Alle, sprich ebenso jene, die es sich nicht leisten können, sollen etwas Gutes zu essen bekommen. Das Konzept stammt von Walter el Nagar, einem in Mailand aufgewachsenen Italo-Ägypter, Weltenbummler und kulinarischen Tausendsassa. «Wir sind ein Restaurant, das gleich wie eine gemeinnützige Einrichtung funktioniert und mit den Einnahmen aus dem Mittagsservice die gratis an Bedürftige ausgegebenen Abendmahlzeiten finanziert», erklärt er das Prinzip.

«Ouvert le midi», heisst es auf einer Tafel vor dem Eingang. Und: «Fresh pasta». Hinter der Tür überrascht ein hoher, lichtdurchfluteter und weitläufiger Raum mit Betonboden, wandhohen Fenstern und hellen Holztischen. In der Mitte des Lokals steht eine nach vorne hin offene Holzbox, in der die Küche untergebracht ist. Das Ganze wirkt wie eine durchgestylte Mensa, und es verwundert darum nicht, dass die Professorinnen und Professoren der nebenan residierenden Haute école d’art et de design hier gerne ihre Mittagspausen verbringen.

Pasta als Konstante
Doch es ist nicht nur der coole Industrie-Look, der für Aufmerksamkeit sorgt. Das Refettorio punktet vor allem mit seinem kreativen kulinarischen Angebot, etwa einer Parmigiana aus sous-vide gegarten Auberginen, die mit einer glänzenden Tinktur aus Miso, Sojasauce und gerösteter, pulverisierter Auberginenhaut eingepinselt und mit eingemachten Cherrytomaten sowie einem Parmesanschaum aus dem Siphon angerichtet werden. Alternativ kommt ein Forellen-Crudo auf Rhabarber, Gurken-Fisch-Sauce, Forelleneiern und ein paar intensiv nach Meer schmeckenden Austernblättern auf den Tisch. Es gibt zwei wöchentlich wechselnde Drei-Gänge-Menüs, eines davon vegetarisch, beide kosten je 36 Franken, der Hauptgang ist immer eine Pasta.

Der Pasta-Chef heisst Stefano Bossi und stammt aus Parma. Mal füllt er zierliche Ravioli mit 24 Stunden sous-vide gegarter Schweinebacke, altbackenem Brot und Käseresten, mal presst er einen mit gerösteten und gemahlenen Zitronenschalen aromatisierten Spaghetti-Teig durch eine mit Bronzedrähten bespannte Holzform und produziert so die quadratischen, leicht angerauten Spaghetti alla chitarra, die mit einer kräftigen Zitronensauce, scharfer Chili und gehackten Pinienkernen serviert werden.

Fermentation statt Verschwendung
Was auf den Tisch kommt, ist geschmacksintensiv, oft überraschend, manchmal extrem. El Nagar ist kein Freund von zarten Aromen, er bearbeitet seine Zutaten so lange, bis sie das Maximum ihres Geschmacks hergeben. «Das ist mit vielen Versuchen, einem langen Lernprozess und einer nicht unbeträchtlichen Fehlerquote verbunden», sagt der Küchenchef selbst.

In einer Art Bücherwand, die sich die ganze Längsseite der Küchenbox entlangzieht, stehen grosse, zum Teil durchsichtige Behälter mit kaum identifizierbarem Inhalt und rätselhaften Beschriftungen: Beef Garum, Courge Kogi, Split Pea Soy Sauce. Sie lagern dort wochen- oder gar monatelang, bis die chemischen Prozesse ein frisches, festes Produkt in eine Sauce oder Paste verwandelt haben. «Gerade ist es uns gelungen, durch Fermentation aus altbackenem Brot einen Essig, eine Misosauce und einen Cenovis-ähnlichen Aufstrich zu machen», erzählt el Nagar. «Schon meine Grossmutter nutzte diese Technik, um damit Lebensmittel haltbar zu machen. Wir fermentieren, um komplett neue Produkte zu erhalten, aber auch, um alles, was in die Küche kommt, zu verwerten.»

Fünfter Tag für Bedürftige
Seit el Nagar als junger Koch von Mailand aufbrach und über Norwegen, die USA, Mexiko, Spanien, Russland, Singapur und Dubai nach Genf ins luxuriöse Ritz-Carlton Hotel de la Paix kam, experimentierte er mit Zutaten und Techniken. Dass er mit seiner eigenwilligen Kreativität in einem Luxushotel anecken würde, war abzusehen, und so beendete er bereits nach wenigen Monaten seinen Ausflug in die Welt der Hotellerie und eröffnete im Februar 2018 in Genf ein eigenes Restaurant: das Le Cinquième Jour, mit nur zwölf Plätzen und einem festen Degustationsmenü. Der fünfte Tag war für ihn der Wichtigste, denn nachdem er vier Tage lang kräftig zahlende Gäste bekocht hatte, servierte er Bedürftigen das gleiche Menü – umsonst.

Zwei Jahre lang ging das gut, dann stiess das Gourmetlokal an seine Grenzen. Der Andrang war kaum noch zu bewältigen und der Küchenchef überzeugt, dass er nun grösser denken musste. Im Februar 2020 gründete er die Non-Profit-Organisation Fondazione Mater, ein Restaurant mit viel mehr Plätzen sollte sogleich folgen. «Dann kam Covid», erzählt el Nagar, «die Welt der Gastronomie stand still.» Seine allerdings nicht – jedenfalls nicht lange. Da die Stadt alle Armenküchen geschlossen hatte und unzählige bedürftige Menschen nicht mehr mit warmen Mahlzeiten versorgt wurden, kümmerte sich el Nagar um Ersatz, trommelte Kollegen, Landwirtinnen und Sponsoren zusammen und produzierte zigtausend (köstliche) Mahlzeiten für all jene, die sonst nichts zu essen hatten.

Nächste Etappen im Blick
Parallel dazu suchte der Chefkoch nach neuen Räumlichkeiten, fand eine ehemalige Fiat-Werkstatt und eröffnete mit dem Refettorio einen Ableger des vom italienischen Drei-Sterne-Koch Massimo Bottura lancierten Suppenküchen-Konzepts. Noch benötigt sein Lokal private Sponsorinnen und Sponsoren, um das wohltätige Projekt zu finanzieren. Doch irgendwann soll es sich selber tragen. Dann wird es seinen idealistischen Gründer wohl verlieren: «Ich möchte weiterziehen, nach Mosambik, in den Libanon oder nach Marokko», sagt el Nagar. «Mit dem gleichen Konzept in ein schwierigeres Umfeld. Wir wollen unser Wissen weiterreichen, damit Bedürftige auch anderswo anständig und würdevoll mit gutem Essen versorgt werden.»

Die Refettorio-Story
Gut informierte Gourmets wissen es: Refettorio ist der Name, den die Suppenküchen tragen, die der italienische Drei-Sterne-Koch Massimo Bottura in verschiedenen Städten eröffnet hat. Hier werden aus Sur-plus-Lebensmitteln, die normalerweise in den Mülleimer wandern würden, gesunde, nahrhafte und leckere Mahlzeiten für Bedürftige gekocht. Längst gibt es Kooperationen mit anderen Küchenchefs und sind rund zehn Refettorio-Ableger zwischen Sydney und Lima entstanden, darunter auch Walter el Nagars Lokal in Genf.
refettoriogeneva.org

Gutes Essen für Menschen in Not
2020 gründete Walter el Nagar die gemeinnützige Fondazione Mater mit Sitz in Genf. Erklärtes Ziel ist es, sozial schwachen oder von sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen Zugang zu einer ausgewogenen Ernährung zu ermöglichen, sie in Würde zu empfangen und ihnen für eine kurze Zeit einen Ort des Friedens und des Wohlbefindens zu bescheren. Die Stiftung setzt sich zugleich für eine Null-Abfall-Politik und für die Entwicklung von Ernährungsprogrammen ein, die mit Organisationen, die sich im Kampf gegen den Hunger engagieren, geteilt werden.
materfondazione.com



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