Freunde von links

Finnlands Spitzengastronomie stand lange im Schatten jener in Kopenhagen und Stockholm. Nun machen sich Köchinnen und Köche daran, die gastronomische Kultur des Landes auf Tellern umzusetzen – ganz ohne Allüren.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: z. V. g., Juho Kuva, Anton Sucksdorff, Mikhail Markovskiy – Shutterstock.com
Veröffentlicht: 15.11.2022 | Aus: Salz & Pfeffer 6/2022

Ob der Michelin da nicht über einen Stern nachdenken sollte? 

Mit der Verfeinerung ist es so eine Sache – vor allem dann, wenn man die Küche eines historischen Restaurants leitet. Im 1937 eröffneten Savoy in Helsinki, hoch oben im siebten Stockwerk eines Gebäudes am Esplanade-Park, speisten ja nicht nur Generationen von Finninnen und Finnen, wenn sie etwas zu feiern hatten, hier hielt auch der Marschall Hof. Nicht-Finnen sei erklärt: Baron Carl Gustaf Emil Mannerheim, Nationalheld des Zweiten Weltkriegs, Staatspräsident ab 1944. Seinen Stammtisch kann man buchen, fragt man rechtzeitig nach, seinen historischen Telefonapparat bewundern, den Vorschmack bestellen. Küchenchefin Helena Puolakka hat gar nicht erst versucht, etwas zu verändern am Klassiker, den die Kellnerin exakt so anrichtet, wie es der berühmteste Finne aller Zeiten vorgegeben hat. Oben die halbierten Kartoffeln, unten die beiden Nocken einer groben Masse aus Fleisch, gesalzenem Hering, Zwiebeln und weiteren Zutaten, links die Gurken, auf der anderen Seite die blutig-roten Randen. Hat Gründe. Der Feind, pflegte der Marschall zu sagen, komme von rechts.

Das ist in Finnland aktueller denn je. Die Beziehungen mit Russland, dem Nachbarn im Osten, sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Russischstämmige Köche, Kellnerinnen und Sommeliers hängen ihre Herkunft gerade lieber nicht an die grosse Glocke, das finnische Volk wiederum, das gern in einem der nicht wenigen georgischen Spezialitätenrestaurants einkehrt, hat die Traditionen der Teigtaschen längst so verinnerlicht, dass niemand mehr an ihre russische Herkunft denkt. Puolakka serviert ihre Pelmeni-Variante, leicht und frisch, mit Zander und Dill, als Vorschmack-Entree, dazu reicht Sommelier Aleksi Mehtonen gern Champagner aus der dicksten Weinkarte Finnlands.

Ob der Michelin da nicht über einen Stern nachdenken sollte? Doch die Küchenchefin weiss, wie der Hase läuft. «Bei uns sind auch schon mal 200 Leute gleichzeitig im Haus», sagt sie. Im Gastraum, in den diversen Private Dining Rooms, eine Etage tiefer, im soeben eröffneten Zweitlokal weiter unten. Mit Michelin-Testerinnen und -Testern kennt sich Puolakka aus wie keine zweite Finnin, weiss um deren Vorlieben und Abneigungen. Ist ja kein Geheimnis, dass Küchen, die für mehrere Outlets zuständig sind, die Inspektoren und Inspektorinnen der roten Bibel nervös machen. Die Küchenchefin freilich lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, schliesslich hat sie sowieso fast alles gesehen, was in der europäischen Kochszene zu sehen ist. Zu Gordon Ramsay ging sie einst nach London und erlebte mit, wie der Mann seinen Ruf als Choleriker begründete. In Pierre Koffmanns dreifach besternter La Tante Claire war sie Head Chef. Und bei Pierre Gagnaire in Paris wollte sie die für das Restaurant üblichen zwei Jahre bleiben. Als sie jedoch schon nach 18 Monaten um Auflösung des Vertrages bat, wies ihr der Meister die Tür. Seitdem herrsche, sagt Puolakka, Funkstille. Blödes Männergetue von gestern.

Altmodisch muss es früher auch im Palace zugegangen sein. Gleich ums Eck, was in Helsinki, wo alles gleich ums Eck liegt, nichts Besonderes ist. Man fährt ein Stück weiter nach oben, schaut ein Stück weiter in die Ferne – diesmal aufs Meer. Und hört, wenn man sich erkundigt, Geschichten von ganz früher. Ein legendärer Küchenchef habe hier mal, als er pensioniert wurde, alle Rezepte verbrannt; sein Nachfolger musste bei null anfangen.

Eero Vottonen, dem heutigen Patron, ist das nicht zuzutrauen. Auch im Palace gibt es, wie im Savoy, allerlei Frauen im aktuell 14-köpfigen Küchenteam (fünf bis sechs, sagt der Chef ); viele Mitarbeitende kommen an die Tische, um die Speisen zu vollenden und zu erklären. Mit Mannerheimschen Würz- und Anrichte-Traditionen hat man hier nichts am Hut, mit ultraregionaler Küche auch nicht. Produkte nur aus Finnland, nein, das nicht, sagt der Chef. Als einziger im Lande darf er sich mit zwei Sternen schmücken; sie prangen unübersehbar am hölzernen Raumteiler vor der Küche. Von dreien, wie sie in Kopenhagen, Stockholm und Oslo bereits leuchten, redet hier zwar noch keiner, aber alle sind sich einig, dass Potenzial da ist. Man muss es nur ausschöpfen.

Vorschmack-Interpretation von Helena Puolakka im Savoy
Helena Puolakka: Finnlands Küchenchefin Nummer eins hält den Vorschmack in Ehren.
Savoy, Helsinki
Eero Vottonen: Fisch, Muscheln und japanische Würze sind für den Palace-Küchenchef unverzichtbar.
Kreation von Eero Vottonen im Palace
Palace, Helsinki

Ob Chef Vottonen da schon an der Grenze des Machbaren angelangt ist? Ein Restaurant müsse Identität haben, sagt er. Hat es durchaus. Fisch und Meeresfrüchte stehen im Vordergrund. Wer vegetarisch essen will, kann das tun, vegane Menüs serviert man allerdings nicht in jenem Restaurant, das mitsamt Hotel 1952 eröffnete, pünktlich zu den Olympischen Sommerspielen. Die waren für die kleine Hauptstadt dermassen überdimensioniert, dass die Finnen und Finninnen noch heute kaum glauben wollen, dass ihnen das IOC damals die Ehre zugesprochen hat. Viele glaubten auch nicht an die eigene Küche, bevor ein gewisser Hans Välimäki im Jahr 1998 das Chez Dominique eröffnete. Französisch mit finnischem Touch, zwei Sterne, ein Platz auf der sogenannten San-Pellegrino-Liste. Der Vorreiter schloss 2013. Er wolle etwas anderes machen, sagte Välimäki damals. Mag sein, dass der Mann seiner Zeit allzu weit voraus war.

Anders als früher ist inzwischen auch die Lage herausragender Produzentinnen und Produzenten. Das Wagyu, einer der Appetizer im Palace, kommt von hier, der Thunfisch wiederum ist von Balfegó, Kaisergranate und Jakobsmuscheln werden in Norwegen angelandet, der Hiramsasa stammt aus Dänemark. Zu Letzterem serviert die Küche hausgemachten Stachelbeer-Ponzu, reichert das Tatar aus rohen Garnelen mit Sansho an, bringt zum Kaviar Dashi-Butter ins Spiel. Ja, sagt Vottonen, er liebe die japanischen Einflüsse, sei in Asien gereist, verbinde Würze von dort mit dem von hier. Von hier soll bald auch wieder Kaviar geliefert werden, aber da eine Produktionsunterbrechung stattfand und sich das Fischei-Unternehmen neu aufgestellt habe, nutze er gerade die Alternative aus Dänemark. Ist halt noch nicht so einfach, alles zu ergattern, was Spitzenköche so haben wollen. Bei den Jakobsmuscheln von Hitra, einer mittelnorwegischen Insel, läuft die Küche übrigens zur Hochform auf – Ingwer und Pilzconsommé kontrastieren die dezente Süsse des Muschelfleisches. Fast noch besser ist der Steinbutt mit brauner Butter und Lappland-Kartoffeln. Die 30 Euro Zuschlag für den gegrillten Kaisergranat lohnen dagegen kaum; unter der würzigen, mit Krustentierschalen, Chilis und geräucherten Jakobsmuscheln zubereiteten XO-Sauce verblassen die Langostinos.

Lieber die Tranche vom Weisswedelhirsch von umwerfender Textur – Jagen ist wie das Sammeln von Beeren finnischer Volkssport – oder das Dessert mit Umeboshi und Oolong-Tee. Noch ein bisschen mehr Eigenständigkeit, eine Spur mehr Mut, die Gäste mal mit Unerwartetem verblüffen, und die zwei Sterne wären noch mehr gerechtfertigt, als sie es jetzt schon sind.

So oder so sollten die Finnen und Finninnen schlicht noch ein bisschen stolzer sein auf ihre Vorzeigeköchinnen und -köche, sie mehr in den Mittelpunkt stellen, auf dass noch mehr Gourmetourismus aufkomme, von links, aus dem Westen. Die Chefs und Chefinnen wiederum müssten sich mehr zeigen. Vottonen zum Beispiel, der betont, dass er am liebsten für seine Gäste im Palace da sei und sich nur selten für Events und Four-Hands-Dinner zur Verfügung stelle. Und natürlich Puolakka. Ein Buch über ihr Leben habe sie schon geschrieben, sagt sie und grinst, aber bisher habe es niemand verlegen wollen. Vielleicht auch, weil zu viel Ehrliches drinsteht über Gordon Ramsay, Pierre Gagnaire und eine Kochszene, die lange von Männern mit übertriebenem Selbstbewusstsein geprägt wurde.

Restaurant Palace, Eteläranta 10, 00130 Helsinki, +358 50 5020718, palacerestaurant.fi
Restaurant Savoy, Eteläesplanadi 14, 00130 Helsinki, +358 96 1285300, savoyhelsinki.fi

Saaristolaisleipä, Moltebeeren und Fastschweizer Schokolade
Ganz vorne und ziemlich intensiv betonen die Finnen das Wort Fazer, den Namen jenes finnischen Schokoladenherstellers, der feine High-End-Patisserie ebenso beherrscht wie alltagstaugliche Süssigkeiten in der Schachtel. Ein Schweizer gründete das Unternehmen im 19. Jahrhundert, aber weil Finnland selbst erst 1919 als unabhängige Republik zu existieren begann, gilt das schon als prähistorisch. Stolz sind die Finninnen und Finnen auch auf ihre Säfte und Weine aus Preisel- oder Moltebeeren, während Klassiker der Alltagsküche wie der mit Blut gestreckte schwarze Pfannkuchen zu Unrecht fast in der Versenkung verschwunden sind. Immerhin feiert das als Saaristolaisleipä bekannte Malzbrot gerade eine Renaissance: dick und saftig zum Käse, dünn als Cracker zum Wildtatar.



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