Sellerie für die Seele

Das Bekochen von Psychiatriepatienten kommt einer gastronomischen Gratwanderung gleich. Gefordert ist viel Fingerspitzengefühl – nicht nur beim Einsatz des Salzstreuers.
Text: Delia Bachmann – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 17.02.2017 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2017

«Selbst Diätköchen fällt es schwer, auf Butter und Panaden zu verzichten.»

Es ist Montag, zehn Uhr morgens. Eine Servicemitarbeiterin des Kloster-Cafés der Klinik St. Pirminsberg rupft weisse Blüten mit rosa Rändern aus einem Rosenbouquet und verteilt sie grosszügig auf den zusammengeschobenen Tischen. Derweil gibt sich das Brautpaar, zwei ehemalige Patienten, in der barocken Klosterkirche nebenan das Jawort. Ihr Freudentag könnte ein Symbol sein für eine von ihren Stigmata befreite Psychiatrie – wenn sie denn befreit wäre. Die negativen Bilder einer Psychiatrie, die es so heute nicht mehr gibt, halten sich jedoch hartnäckig in den Köpfen. Und das, obwohl Deckelbäder, Zwangsjacken und Co. längst in den Museen Staub ansetzen. Die Vision der Psychiatrie-Dienste Süd, zu denen auch die 1847 gegründete Klinik St. Pirminsberg gehört, lautet deshalb: «Wir entstigmatisieren die Psychiatrie.»

Die Klinikgastronomie leistet dazu ihren Beitrag; Essen ist ein wichtiger Teil des Behandlungskonzepts. Seit nunmehr gut einem Jahr arbeitet die Klinik nach der Vita-Food-Philosophie, sprich mit Lebensmitteln, welche die Seele wärmen, den Geist erhellen und den Körper stärken sollen. Ebenso wichtig wie das, was drin ist, sind die Tabu-Zutaten. Dazu gehören Palmfett, Glutamat und gewisse E-Nummern. Goldene Culinarium-Kronen auf den Menüs verweisen zudem auf den hohen Anteil regionaler Produkte. Alfred Kral, Leiter Hotellerie und Kopf des Konzepts, weiss wie schon Hippokrates vor ihm und Küchenchef Patrick Schwendener nach ihm um das empfindliche Zusammenspiel von Körper und Geist.

Als er 2006 nach Pfäfers in die Klinik kam, traf er auf eine gute, jedoch nicht sehr gesunde Küche. Das Problem: «Die Menschen nehmen von den Medikamenten teilweise extrem schnell zu. Nach zehn Tagen haben die solche Bäuche», erzählt Kral und formt mit seinen Armen einen stattlichen Kreis. Besonders wichtig sei die Ernährung bei Patienten mit Depressionen oder mit Entzündungen: «Es gibt Leute, die regen sich so stark auf, dass sich Magen- und Darmschleimhäute entzünden.»

Wenn Alfred Kral von seinen grossen Zielen und den vielen, kleinen Schritten auf dem Weg dorthin spricht, wird klar: Das ist ein Mann mit Mission, und die ist mitunter heikel. Zuweilen muss er seine Begeisterung zügeln und sich in Geduld üben. Den Vorwurf missionarischen Übereifers will Kral um jeden Preis vermeiden, ebenso jegliche Form von Zwang: «Wir wollen die Leute mit unterschwelligen Angeboten auf den Geschmack von gesundem Essen bringen.» Einfach geht das auch in Kleinkinderschritten nicht: Zwischen Sollen und Wollen liegen häufig Welten. Gerade wenn es um Essen geht, lassen sich alte Gewohnheiten nur schwer ablegen. Hier setzt der zweite Teil von Krals Konzept an: die Food-Kaskade.

Alfred Kral, Leiter Hotellerie und Kopf des Vita-Food-Konzepts
Fischfilet auf Meerrettich Wirsing
Küchenchef Patrick Schwendener
Hochzeitsfest im Kloster-Café
Roastbeef mit Bratkartoffeln
Die Vita-Food-Insel

Dabei spielt das Kloster-Café, das Mitarbeitern, Gästen und Patienten offensteht, die Rolle eines Versuchslabors. In der Vita-Food-Ecke werden jeden Tag fünf gesunde Gerichte und Produkte aufgetischt. Aufstellschildchen geben Auskunft über Inhaltsstoffe und ihre Wirkung auf Körper, Geist und Seele. Vita-Food-Gerichte, die gut laufen, schaffen den Sprung ins Menü eins, das wiederum auf die Stationen kommt. Den Patienten werden also Mahlzeiten serviert, die einem ersten Beliebtheitstest Stand gehalten haben. Die aufwendige und häufig unbemerkte Sensibilisierung für gesundes Essen macht eine sanfte Umgewöhnung erst möglich. Dahinter steckt nicht zuletzt der Wunsch, die Gesundheitskosten zu senken: Leute, die sich gesund ernähren, werden seltener krank.

Ob die Gäste den Wechsel vom saftigen, goldbraun ausgebackenen Schnitzel zum mageren Fisch dann tatsächlich goutieren, ist eine Frage der Umsetzung. Und die liegt in den Händen von Patrick Schwendener, seit zwölf Jahren Küchenchef der Klinik St. Pirminsberg: «Ich habe mich von Fredis Virus anstecken lassen», erzählt Schwendener schmunzelnd. Zu Alfred Kral pflegt er ein gutes Verhältnis – auch, weil sie sich ideal ergänzen: «Er bringt die Ideen. Ich schaue, was man wie umsetzen könnte.»

Heute fällt ihm das leichter als früher: «Auch bei mir musste zuerst ein Umdenken stattfinden.» Dieses fordert er nun von seinem Team. Denn selbst Diätköchen fällt es schwer, auf Butter und Panaden zu verzichten. Das hat mit dem Berufsstolz zu tun: Kein Koch geht beim Geschmack bereitwillig Kompromisse ein. Nicht einmal dann, wenn sie der Gesundheit dienen. «Das Umdenken muss trainiert werden», sagt Schwendener, der Tag für Tag für mehr Kräuter und weniger Salz in den Töpfen plädiert.

Das Budget von 15 bis 20 Franken pro Tag und Person lässt ihm genügend Spielraum, etwa für Pro-Specie-Rara-Gemüse oder auch mal ein Roastbeef: «Wir haben mit Daniel Seifert vom Böschnihof in Sevelen einen eigenen Gemüsebauer. Heute sind wir so weit, dass er mich fragt, was für Salate ich brauche», erzählt er strahlend. Ohne diese Partnerschaft wäre die Gemüsevielfalt, die Schwendener in der Küche pflegt, ja richtiggehend zelebriert, nicht möglich: Spargeln, Sellerie, Karotten, Federkohl, Palmkohl, Pastinaken, Randen in allen Farben und Formen. Kurz gesagt:Die Liste ist lang, die Möglichkeiten sind «unendlich». Zumindest in der Theorie.

In der Praxis folgt das wenig schmeichelhafte Feedback, wenn der Gastronom am Geschmack seiner Gäste vorbei kocht, postwendend. So lässt sich Alfred Kral, der die Stationen in einem regelmässigen Turnus besucht, besonders gerne am monatlichen Schnitzeltag blicken. An den Wurzelgemüsetagen hagelt es hingegen durchaus mal harsche Kritik. Insgesamt ist das Fazit aber positiv: «Wir versuchen, anderen Kliniken einen Schritt voraus zu sein», resümiert Schwendener. Geht es nach Kral, soll St. Pirminsberg zu einem Kompetenzzentrum für Kliniken und Spitäler werden, die den gleichen Weg einschlagen wollen. Dahinter steckt dasselbe Kalkül wie hinter den zahlreichen Zertifizierungen und dem jährlich durchgeführten, öffentlichen Anlass «Kreative Köche»: Das Umdenken innerhalb der Klinikmauern ist ein Anfang, die Köpfe der Aussenstehenden erreicht man damit aber noch nicht. Erst wenn die unternommenen Anstrengungen sichtbar gemacht werden, besteht auch eine Chance, die überholten Bilder endgültig hinter sich zu lassen.

Klinik St. Pirminsberg, St. Gallische Psychiatrie-Dienste Region Süd, 7312 Pfäfers, 081 303 60 60, www.psych.ch



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