Stille Tage im Piemont

Im Piemont gehen Tradition und Erneuerung Hand in Hand. Sehr schön ist das im Ristorante Fre und im Weingut Réva in Monforte d’Alba zu sehen und zu fühlen. Der Versuch einer Liebeserklärung.
Text: Martin Jenni – Fotos: Byfarm, Marc Gosselin und Roxanne Maritz
Veröffentlicht: 21.09.2017 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2017
Aussicht von der Terrasse des Ristorante Fre

«No Barrique, no Berlusconi.»

Auf dem Dorfplatz werfen die Strassenlaternen ihr schwaches Licht in die Gassen, am dunklen Firmament verabschieden sich die Savoyer Alpen, und in der Osteria am Dorfplatz treffen sich die Eingeborenen auf ein Glas Barolo Chinato zum vorabendlichen Schwatz. Unspektakulärer Alltag im Piemont. Auch im hektischen 21. Jahrhundert. Noch in den Achtzigern war die Langhe verschlafen und verschont von der Trüffelmanie neureicher Prasser. Der Dolcetto schäumte violett, und an junges Holz verschwendeten die Winzer keine Gedanken. In den familiär geführten Beizen kam der Trüffel zum Freundschaftspreis auf den Tisch, und die Antipasti wurden nie unter acht Gängen aufgetischt. Manchmal kamen noch einige dazu. «No, grazie» zu sagen, war nicht möglich.

«Mangia, mangia bene», sagte die lächelnde Nonna, was einem Befehl gleichkam. Die Primi wurden auf Platten serviert, bei denen die hauchdünnen Tajarin und die in Butter und Salbei geschwenkten Agnolotti im Vordergrund standen. Den Hauptspeisen blieb nur die Nebenrolle. Kaninchen in Arneis, Brasato al Barolo und Anatra, begleitet von leicht angebratenen Karotten, lösten beim satten Gast nur noch ein müdes Lächeln aus, zumal es ja zum Dessert noch ein Bonèt und ein Semifreddo mit einem Stück Haselnusskuchen zu bewältigen gab. Ein «oder» wurde auch hier nicht geduldet. Danach zischte die Tafelrunde eine Flasche Moscato d’Asti oder Brachetto d’Acqui weg, bevor der Grappa für den balsamischen Beistand zum Einsatz kam. Übertrieben? Nein. Und wenn doch, dann schön.

Vieles hat sich seitdem verändert. Zahlreiche Beizen sind mit ihren «Nonne» verschwunden, neue sind entstanden, geführt von jungen Gastgebern, welche die schmerzlichen Lücken der Alten souverän schliessen. Die Fülle an qualitativ guten Lokalen ist im Piemont nach wie vor ungebrochen. Es gibt wohl keinen Landstrich in Europa, in dem es sich derart gut essen und trinken lässt. Erfreulich ist auch, dass sich zahlreiche Winzer rückbesinnen und mit der Unsitte aufhören, ihre Provenienzen zu Alkoholbomben auszubauen.

Ein Grignolino muss seine Leichtigkeit behalten, er muss im Glas rubinrot leuchten, und ein Nebbiolo hat nichts im Barrique zu suchen. Der vor einigen Jahren verstorbene Bartolo Mascarello brachte es mit seiner politischen Zwischennote auf den Punkt: «No Barrique, no Berlusconi.» Seit seinem Tod führt die Tochter sein Lebenswerk weiter. Trotz schwerem Erbe ist es ihr gelungen, die Eigenheit und die Qualität der Weine beizubehalten. Allerdings kostet in der Schweiz so ein Barolo um die 240 Franken, was dem Weinfreund das Trinken natürlich nicht gerade erleichtert.

Grossartige Barolos produziert Lorenzo Accomasso in La Morra. Der legendäre Winzer ist zwar müde, über sein Alter schweigt er sich aus, und plaudern mag er eh nicht. Schon gar nicht über seine Weine. Viel lieber rede er mit jungen Frauen oder gehe mit ihnen Tango tanzen. Das halte ihn jung. Bei der Frage, wie lange er schon Weine mache, wirds philosophisch: «Schon immer.» Und bei seiner Antwort auf die Frage, wie er den Einsatz von Barrique beim Ausbau des Barolos beurteile, wirds sinnlich: «Man wechselt vielleicht die Frauen, aber man ändert nie seine Weine.» Und wer wissen will, wie er denn seine unvergleichlichen Barolos herstellt, wie er in den Reben, im Keller arbeitet, dem wird Accomasso mit einem langen Seufzer antworten: «Ja, wie wohl? Die Trauben müssen reif sein, einfach reif. Der Rest geht von selbst.» Es ergibt tatsächlich mehr Sinn, mit ihm über Frauen zu philosophieren.

Über Isabel Oberlin zum Bei spiel, die sympathische Gastgeberin im Ristorante Fre in Monforte d’Alba. «Dopo!» Lorenzo Accomasso schenkt, wenn er einen denn überhaupt empfängt, grosszügig ein und nach. Gespuckt wird bei ihm nicht, sondern geschluckt. Sein Barolo «Rocche» ist schnell leergetrunken. Ein tiefes Dunkelrot aus Beerendüften mit kräftigem Abgang bleibt in Erinnerung. Der «Rocchette» kommt ins Glas, und obwohl Accomasso seine Gäste gerne in Trance murmelt, ist der Gaumen hellwach. Was für eine tiefschwarze, animalische Steigerung. «Die Zukunft gehört den Winzerinnen. Sie sind stark im Kommen», sagt der Meister, steht auf und verabschiedet sich. Lorenzo Accomasso ist einer der letzten Traditionalisten und Barolisti, ein piemontesisches Urgestein und bescheidener Cavaliere, von Italien für seine Verdienste ums Land geehrt.

Karotte, Joghurt & Rosmarin
Paolo Meneguz ist kein Zauberkünstler, sondern ein geerdeter Terroir-Koch.
Im Weinberg
Fassona-Rind, Spargeln & Johannisbeere
Isabel Oberlin, die herzliche und charmante Gastgeberin des Ristorante Fre, ist nie um eine Antwort verlegen.
Aal aus dem nahen Bergbach auf Zucchine trombetta und einer Reduktion aus Amarena-Kirschen vom eigenen Kirschbaum im Weinberg
Das Ristorante Fre
Risotto von Herstellern, die in Bra die Reisproduktion wieder aufnahmen, Schafskäse von Cascina Soffietti, dem verrückten Tierarzt aus der Alta Langa, und Aprikosen des Gemüselieferanten aus dem Roero

Ein Cavaliere ist Gianluca Colombo vom Weingut Réva noch nicht, aber ein Winzer, der die Natur in die Flasche bringt. Es sind keine genormten und konstruierten Weine, sondern naturbelassene, grossartige Trinkerlebnisse. Sein Barolo 2012 ist eine Offenbarung und erinnert leichtfüssig an das Piemont vergangener Tage. Hier auf Réva entsteht Grosses. Aber was benötigt es genau, um erfolgreich zu sein und glückliche Gäste für dieses stilvolle, komplexe Resort zu gewinnen? Fingerspitzengefühl. Geld allein ist kein Garant für den Erfolg.

Besitzer Miroslav Lekeš, tschechischer Unternehmer und passionierter Weinliebhaber, hat beides. Er investiert aus Leidenschaft Geld in die feine Lebensart. Mit Daniele Scaglia hat er einen umsichtigen Hotelmanager, mit Gianluca Colombo den richtigen Winzer, mit Isabel Oberlin die charmante Gastgeberin im hauseigenen Ristorante Fre, und mit Paolo Meneguz steht ein Koch am Herd, den man sich nur wünschen kann. Bescheiden, konsequent und mit einer ausgewogenen Kochsprache gesegnet, hat er das Fre innert kürzester Zeit zum kulinarischen Insidertipp der Langhe gekürt.

Dabei gelingt ihm der perfekte Spagat zwischen Tradition und Erneuerung. Paolo Meneguz, der weit über den Kochtopfrand hinaus denkt, kocht Terroir-Gerichte, die durch ihre Schlichtheit und echten Aromen überzeugen. Seine Heimat in ihren kulinarischen Facetten hat Meneguz in seiner Familie kennengelernt. «Es sind Gerichte, die mir meine Mutter und meine zwei Nonne beigebracht haben. Oftmals liegt in der Einfachheit die Lösung. Das hat stets zur kulinarischen Entwicklung dieses Landstrichs beigetragen. Und trotz der stark verwurzelten Tradition werden junge Menschen gefördert, die sich im Piemont in einer anderen Kochsprache ausdrücken wollen. Das stärkt die Verbindung unter den Generationen», sagt Paolo Meneguz und schwärmt im gleichen Atemzug von Sternekoch Ciccio Sultano vom Ristorante Duomo im sizilianischen Ragusa. «Mit einfachen Mitteln hat er mir die Neugier und das Bewusstsein für den Sinn der gesamten Wertschöpfungskette vermittelt. Als Koch muss man der Erste sein, der das Produkt perfekt kennt. Von seiner Herkunft und Tradition bis hin zu seinem Konsum. Nur so kann man dem Gast vermitteln, was wirklich wichtig ist. So wird der Genuss durch das erweiterte Bewusstsein über das Produkt verstärkt.»

Im Fre dominiert eine freundschaftliche, unkomplizierte Atmosphäre. Die Gespräche zwischen den Gästen und der Gastgeberin sind offen und herzlich. Man begegnet sich auf Augenhöhe. Isabel Oberlin hat in Basel und Kopenhagen Gesellschaftswissenschaften und Wirtschaft studiert, sie ist kein steifer Pinguin in Uniform, keine Schönschwätzerin, die mit lauen Lippenbekenntnissen nervt, sondern mit Wissen, Witz und Charme überzeugt. Das freut die Gäste, die sich im Fre sehr schnell sehr wohl fühlen und lustvoll trinken, essen, plaudern und sich fragen, warum diese angenehme Form der Gastfreundschaft nicht öfter vorzufinden ist.

Für die Zusammenstellung der Weinkarte erhielt Isabel Oberlin von Miroslav Lekeš eine Carte blanche. Ein Vertrauen, das sie sich während zweier Jahre an der Università degli Studi delle Scienze Gastronomiche erarbeitet hat. «Das Piemont verändert sich. Beständig. Vor allem in der Gastronomie. Viele junge Menschen kehren aus der Fremde zurück und widmen sich vor Ort der Landwirtschaft, der Produktion von Lebensmitteln, und interpretieren die traditionelle Küche neu mit vielen Inputs von aussen», sagt Isabel Oberlin. Und vielleicht ist ja gerade die Rückkehr zur Landwirtschaft, die nicht aus Zwang, sondern freiwillig aus der Faszination und dem Respekt für Terroir und Tradition heraus geschieht, der nachhaltige Weg zum Erfolg. «Im Fre zelebrieren wir eine cucina del territorio, ein Essen für Kopf und Bauch, und verpacken es in ein natürliches gastronomisches Erlebnis. Für uns hört die Wertschöpfung des Lokalen nicht beim Barolo und beim Castelmagno auf. Sie bezieht sich auf alles», ergänzt sie.

Das sind keine abgedroschenen Phrasen, sondern ist in vielen Einzelheiten erkennbar. Die Tische wurden aus lokalem Kastanienholz hergestellt, die Keramikteller sind aus der Region und handgemacht, genau wie die Steakmesser, die die Tradition des Vernante-Messers aufleben lassen. «All dies wurde in Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkern designt und entwickelt und gehört zum Fre wie unser Tatar vom lokalen Hirsch oder die Agnolotti del Plin.» Isabel Oberlin ist eine geerdete Frau mit einem breiten Fachwissen und einem nachhaltigen Qualitätsbewusstsein, das sie ehrt und ihre Gäste freut. Stille Tage im Piemont. Mit Trota und Trippa, mit Fassone und Faraona, mit Cachi und Cioccolato und mit Weinen, die zu fairen Preisen begeistern. Tutto bene!

www.revamonforte.it, www.ristorantefre.it



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