Weltklasse im Dorfidyll

Ohne Gourmet-Querdenker wäre Lech am Arlberg heute ein gemütlicher Wintersportort unter vielen. So aber wird genau hier über die Küche von morgen nachgedacht, über Regionalität, Gästebedürfnisse und Maisdrinks.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Ingo Pertramer/ z.V.g.
Veröffentlicht: 24.11.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 7/2020
Inhaber Joschi Walch, Gattin Natascha und Hund Alma widmen sich dem guten Essen.

«Und mal ehrlich: Wer will noch vier Stunden bei Tisch sitzen?»

Ein Foto des alten Ortes hängt an der Wand. Eine winzige Kirche, ein paar Bauernhäuser. Viel war nicht los in Zug, einem winzigen Teil von Lech am Arlberg, damals, vor ein paar Jahrzehnten. Genauer gesagt: gar nichts. Das wollte der Landwirt und Skilehrer Josef Walch ändern. Im heimischen Bauernhaus begann er eines Tages im Jahr 1959, deftige Vorarlberger Speisen zu servieren. Bald holte er seine Gäste in Lech mit der Kutsche ab, führte das Fondue ein und machte die Beiz fernab vom Schuss zum Touristenziel, bevor der Begriff Tourist überhaupt genutzt wurde. Gattin Burgi Walch kochte so, wie es heute keiner mehr tun würde.

Man habe damals alles selbst gemacht, erinnert sich Joschi Walch, der Sohn und heutige Chef der Roten Wand. Die Pommes frites zum Beispiel, aus frischen Kartoffeln. Sogar die Chips, die nach dem Frittieren in Eierkartons zwischengelagert wurden; jeder trockene Platz stand voll mit den Knabbereien. Bei Joschi Walch muss spätestens damals die Lust aufs Essen durchgeschlagen haben, die man dem stattlichen Herrn ansieht. Lust aufs Backhendl zum Beispiel, dessen Namen man nicht erwähnen kann, ohne dass der Chef zu lächeln beginnt und behauptet, dass es sich um sein Lieblingsgericht handele. Er behauptet es, da muss man ehrlich sein, allerdings noch bei einigen anderen Gerichten. Fast entsteht der Verdacht, dass so ziemlich alle Speisen, deren Rezepte im gerade erschienenen Rote-Wand-Kochbuch stehen, Lieblingsrezepte des Patrons sind. Hauptsache, es ist selbst gekocht!

In den Sechzigern und Siebzigern war aber nicht nur Hausgemachtes, sondern auch Regionalität unverzichtbar. Sie war es auch, als Joschi Walch den kleinen Gasthof zum beachtlich grossen Hotel ausbaute. Das Essen blieb, trotz Saunen und Pools, die Hauptsache, weshalb das Wort Gourmethotel kein Marketinggag ist, sondern gelebter Alltag. Viele Gäste kommen nur der Kulinarik wegen in die Rote Wand, aber auch nach Lech selbst, das sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem echten Gourmetdorf entwickelt hat. Im Burg Vital Resort kann der Gast auf SterneNiveau essen, in der Post, in welcher der niederländische König abzusteigen pflegt, herrschen Ambitionen. Und dann das Aurelio’s oder das auf Natural Alpine Cuisine setzende Klösterle. Von einem Weltgourmetdorf Lech sprach man schon, und da ist was dran. Solche kulinarische Vielfalt auf hohem Niveau, sich selbst befruchtend, ist anderswo undenkbar.

Selbst gesammelter Guter Heinrich als Pesto wird zum knusprigen Röstbrot mit Tomate gereicht.
Shakshuka zum Frühstück: Einflüsse aus aller Welt werden in der Roten Wand mit Augenmass integriert.
Max Natmessnig hat den Chef’s Table zu einem der besten Restaurants Österreichs gemacht.

Und so ein Konzept, wie es Patron Walch im alten Schulhaus gleich neben dem Gasthaus Rote Wand eingerichtet hat, gibt es auch im Konkurrenzgourmetdorf Baiersbronn im Schwarzwald nicht. Unten konnte man bis vor kurzem noch währschafte Speisen vertilgen, oben am Chef ’s Table speisen, wie es sonst in New York üblich ist oder in London. Inzwischen wurden beide Stockwerke dem feinen Dinner gewidmet. Unten nimmt der Gast nun den Apéro, bekommt schon zum Aufwärmen Rettich-Consommé und Beef-Tartelette gereicht, wahnsinnig elegant begleitet von Champagner des Winzers Eric Rodez, trifft erstmals Küchenchef Max Natmessnig, seit 2017 vor Ort.

Natmessnig hat im Oud Sluis unter Sergio Herman gearbeitet, im Chef ’s Table at Brooklyn Fare auch. Ein bisschen erinnert der Chef ’s Table in Lech am Arlberg ja schon an den Drei-Sterner in New York, aber eine Kopie ist es nicht. Jener Moment, in dem der Küchenchef seine verwendeten Produkte im Gastraum vorstellt, beinhaltet nämlich Elemente, die sich auch im schwedischen Fäviken finden liessen. Doch hier geht es noch intimer zu als in den skandinavischen Wäldern, weshalb die Aufmerksamkeit von Anfang an ungeteilt ist. Der Forellenkaviar stamme, erklärt Natmessnig dem Publikum stolz, aus der hiesigen Zucht, gerade mal 50 Meter vom Schulhaus entfernt. So kennt man es vom Fäviken. Doch was machen die Austern hier? Weshalb wurde Kaisergranat auf dem Tablett drapiert? Die Auflösung folgt auf dem Fusse und wird am nächsten Tag von Joschi Walch nochmals erläutert. Nachdem man im Gourmetrestaurant eine Weile lang nur mit regionalen Waren gearbeitet habe, sei es nun an der Zeit, auch ein paar internationale Zutaten zu verwenden. Covid-19 habe diese Entscheidung erleichtert, sagt Walch. Man habe den Gästen, die ja nicht so reisen konnten wie gewohnt, den kulinarischen Trip in die Welt anbieten wollen. Aber er sagt es so, dass klar wird: Es ist nicht der einzige Grund. Tatsächlich haben sich Walch und sein Köcheteam umgesehen, nach und nach Entscheidungen vorbereitet. Regionalität als Dogma kann es nicht sein. Und wenn es grandiosen King Crab gibt, warum ihn nicht als Zutat im Menü nutzen? Mit Sanddorn und Kürbis!

Vielleicht ist dies ja der nächste, logische Schritt. Globalisierung muss kein Tabu sein, auch 2021 sollen ja Amerikaner, Engländer, Japaner nach Lech kommen, um im Weltgourmethotel des Weltgourmetdorfes zu speisen. Wenn sie hier einen Alpin-Sake bekommen, der zur Auster mit dem derzeit trendigen N25-Kaviar passt, kann man das als sympathische Verbindung der Kulturen verstehen. Der Reiswein kann der Auster übrigens Paroli bieten, aber unterm Strich macht die alkoholfreie Begleitung diesmal mehr Spass als die klassische. Ein süffiger Drink aus Mais, Reismilch und Verjus zur Gänseleber mit Kohlrabi, die Paprika-Stachelbeer-Kombination zum Kaisergranat mit einer XO genannten Paste aus lange miteinander fermentierten Würzzutaten: wow! Vielleicht sollte man hier immer die Weltgetränkebegleitung ohne Alkohol bestellen und den Wein erst nach dem Essen trinken. Zeit wäre dafür ja. Weil pandemiebedingt weniger Gäste am Chef ’s Table sitzen dürfen, wurden zwei Seatings eingeführt. Komme gut an, erzählt man, auch weil das früher fast ausufernde Programm zeitlich gestrafft wurde. Und mal ehrlich: Wer will heutzutage noch vier Stunden und länger bei Tisch sitzen? Könnte also auch in der Nach-CoronaZeit beibehalten werden. Wer die gastronomischen Trends von morgen und übermorgen erkennen will, der muss nicht unbedingt nach Paris, Oslo und Chicago reisen, sondern braucht bloss die Bahn an den Arlberg zu besteigen. An der Station wird er dann abgeholt – nicht mehr mit der Pferdekutsche, aber ebenso persönlich wie früher.

Gourmet Hotel Rote Wand
Zug 5, A-6764 Lech am Arlberg
+43 5583 3435 0
rotewand.com

Zum Nachkochen
Ein Kochbuch übers Gourmethotel im Weltgourmetdorf hätte man so machen können oder anders. Man entschied sich fürs «so». Fürs Nachkochbare und Authentische. Die vorgestellten Speisen wirken bodenständig, aber der aufmerksame Leser sieht die Ambitionen aufblitzen. Alle Abteilungen des Hauses waren am Buch beteiligt: die Gourmetküche, die Tagesküche, die Entwicklungsküche. Und der Gast kann was lernen. Wie er Pesto aus Gutem Heinrich macht, einen Kartoffelbaumkuchen zusammenbaut, aber auch, wie er Bärlauch-Chawanmushi zubereitet oder Lavendel-Stachelbeer-Macarons hinbekommt.

Rote Wand. Das Kochbuch.
Herausgeber: Joschi Walch, Texte: Christian Seiler und andere, Fotos: Ingo Pertramer, CHF 48.–, csv.at



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