Es hat etwas mit Liebe zu tun

Begegnung mit einem Brauer der besonderen Art: Karl Locher aus Appenzell spricht über das Denken in Kreisläufen, die Kraft der Langsamkeit und die Rolle des Zuschauers.
Aufgezeichnet: Madeleine Surber – Fotos: Njazi Nivokazi
Veröffentlicht: 08.02.2022 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2022

«Das Leben ist doch keine verschlossene Nussschale!»

«Ich bin nicht nur Brauer, ich bin auch Biertrinker. Ich mag Whisky und Bier. Vielleicht ist das ja erblich, wir waren schon immer ein Familienbetrieb. Das Brauen ist hier uralte Tradition. Bereits 1886 kaufte unser Ururgrossvater die Brauerei. Mir selber war nicht von Anfang an klar, dass ich mal einsteigen möchte. Bin aber nicht schlecht gefahren so.

Bier war jahrhundertelang ein Grundnahrungsmittel wie Brot, man trank es zum Frühstück, zum Mittagessen, nicht Wasser. Wasser war nicht immer rein. Dieses Bier hatte natürlich kaum Alkohol, weil die Gärung noch nicht gesteuert wurde. Es ist schnell überegheit. Bier galt lange auch als Heilmittel. Zudem hat es den ganzen Vitamin-B-Komplex, Mineralien und so. Mit Bier kann man überleben.

Bis vor wenigen Jahren waren die Brauereien häufig auch Brennereien. Eine Beiz, ein Bauernhof, eine Brennerei, das gehörte dazu. Um 1900 gab es 600 Brauereien in der Schweiz, die konnten ihre sogenannten Nebenprodukte direkt den Tieren auf dem Hof verfüttern. Weitere Reste brannte man, Abfall gab es kaum. Das macht doch einfach Sinn, die Leute waren alles andere als blöd. Und man verwertete die Dinge möglichst direkt, mit kurzen Wegen. In Kreisläufen zu denken, war schlicht wirtschaftlicher. Wenn wir überleben wollen als Spezies, kommen wir nicht drum herum, wieder in Kreisläufen denken zu lernen.

Dass man hochwertige Rohstoffe einfach wegschmeisst, ging mir immer gegen den Strich. Brauereien geben zum Beispiel schon lange die Malzrückstände, den Treber, weiter an die Bauern, die damit die Tiere füttern. Das gibt sehr gutes Fleisch. Die Bierhefe wird teilweise ebenfalls für die Tierfütterung verwendet, aber auch für Pizzas, die Chips und in der Fischzucht. Das machen wir nicht fürs Image, sondern schon lang, aus Freude an der guten Sache.

Letzten Endes mache ich die Dinge immer auch für mich. Wegen der Freude, eindeutig. Ich mache Bier, weil ich es gern habe und ein möglichst gutes Bier will. Die Energie ist immer, etwas zu verbessern, die Sachen zu optimieren, aber echt. Nicht die Geschäftszahlen optimieren, sondern die Qualität. Die Zahlen folgen dann. In vielen Unternehmen diktieren Zahlen, bei uns mehr Ideen. Natürlich ist es wichtig, dass wir als Unternehmen überleben. Aber der Gewinn war nie die Triebkraft. Ich glaube, wir denken vor allem langfristig.

Das Problem ist: Aktionäre wollen Gewinne. Und als Verantwortlicher weiss ich, wenn ich die Zahlen nicht liefere, bin ich den Job los. Als CEO muss ich in Perioden denken, aber für ein Unternehmen ist das keine lange Zeit. Auf die Dauer ist es weniger nachhaltig. In einem Familienbetrieb plant man anders. Wenn wir 1000 Franken weniger verdienen, aber denken, dass sich der Entscheid in 30 Jahren positiv auswirkt, dann machen wir es. Unsere Überlegungen sind langfristig, weil man der nächsten Generation einen gesunden Betrieb übergeben möchte. Wenn man etwas weitergeben will, trägt man Sorge zum Ganzen.

Beim Biermachen ist die Natur absolute Hauptakteurin. Die Natur stellt alles her, wir begleiten sie nur. Wir schaffen optimale Bedingungen und schauen. Eine Tomate stellen wir schliesslich auch nicht her. Sondern sie wächst, und wir schauen für genügend Licht, guten Boden, gutes Klima und Schutz. Wir umsorgen sie. Das war immer unsere Haltung. Das ist das ganze Geheimnis.

Vielleicht hat das mit dem Appenzell zu tun, kann sein. Hier musste man auf solche Sachen achten. Die Verbundenheit zur Natur, die Kreisläufe beobachten, sie erfahren und verstehen, das war lebenswichtig. Das Leben ist doch keine verschlossene Nussschale! Alles ist immer verbunden mit allem, und alles wirkt aufeinander.

Das hat viel mit Bier zu tun. Wir pflanzen einen Teil der Gerste zum Beispiel in den Bergen, bis auf 1700 Meter über Meer. Gerste eignet sich gut für die Berge. Wir fragen immer, was braucht es, um das beste Bier zu bekommen? Da ist man schnell bei den Rohstoffen. Zuerst kauft man biologisch ein, klar. Aber dann fragten wir, wie wird zum Beispiel Tee optimal angebaut? Die guten Sorten kommen fast immer aus anspruchsvollen Lagen. Beim Wein sowieso. Wenn es ein wenig hart ist, wird es oftmals besser. Langsam Gewachsenes wird besser. Wir propagieren es nicht gross, aber viel von unserem Getreide kommt aus der Höhe. Das macht es intensiver, dichter, nussiger im Geschmack. Auch gegen Schädlinge ist die Höhe gut, Trockenheit, harte Winter. Aber die Erträge sind natürlich kleiner, also ist es kurzfristig teurer. Weniger, aber Gutes ist immer besser.

Gute Lebensmittel herstellen heisst auch ein wenig, die Menschen gern haben. Ihnen etwas Gutes zur Verfügung stellen. Das hat mit Liebe zu tun, sicher, die geht durch alles. Liebe zur Natur, zur Schöpfung. Bei den Menschen bin ich heikler. Menschen mag ich als Kreatur, als Teil der Natur. Aber ich liebe nicht grad jeden.

Bier machen ist extrem faszinierend, ein Lebensprozess. Das beste Bier macht die Natur, wir begleiten sie nur. Wir sind quasi Hebammen. Damit wir Bier bekommen, muss jedes Korn gelebt haben. Erst dann kann es ein Malzkorn werden. Am Anfang haben wir das Korn, das zu leben beginnt. Es keimt, fängt an zu atmen, sendet Enzyme aus und hackt die langen Stärkeketten auf, die aussehen wie riesige Bäume. Dadurch bekommt der Keimling Energie und kann wachsen. Irgendwann sagt die Mälzerin, jetzt ist gut, und leitet die Trocknung ein. Das ist Mälzen. Diesen Lebensprozess führen wir weiter im Sudhaus. Da wird der Malzinhaltsstoff in flüssige Form gebracht. Und dann kommt die Hefe dazu. Auch die Hefe begleiten wir. Auch Hopfen kommt beim Biermachen dazu, ich erzähle das hier sehr verkürzt. Hopfen braucht es für die Bitterkeit, für den Geschmack. Die Erfinderinnen von Bier taten es vielleicht aus einem anderen Grund dazu. Hopfen hat viele Antioxydantien, die fangen Radikale ab. Viele Bitterstoffe haben das, sie sind gesund.

Von der Hefe könnte ich ja stundenlang reden, mit grossem Respekt, sie ist ein Universum für sich. Ein grossartiges Lebewesen. Unsere Biohefe isst darum nur Feines, sie hat einen Haufen Stickstoff und natürliche Mineralien zur Verfügung und vermehrt sich so wunderbar. Das schmeckt man einfach. Im Brauprozess gibt uns die Hefe 15 bis 30 Millionen Zellen pro Milliliter. Jede dieser Zellen ist auch wieder ein Lebewesen. Wir geben also unendlich viele Lebewesen zu dieser Lösung, 15 bis 30 Milliarden Hefezellen pro Liter. Und die werden sich dann bis zu verdreifachen. Sie essen die Extrakte, geben dafür Alkohol ab, Kohlensäure, Ester und Geschmacksstoffe. Die Hefezellen leben und schaffen, wir schauen und begleiten. Sie vermehren sich, geben Stoffe ab, wandeln um, räumen auf. Darum braucht Hefe immer Zeit, um den Lebensprozess optimal zu durchlaufen.

Eigentlich kann man sagen, wir produzieren ein Lebensmittel, das von der Natur erschaffen wurde.»

Karl Locher, 1960 in Ghana geboren und im Appenzell aufgewachsen, ist seit 1990 Patron der Brauerei Appenzeller Bier. Und ein Pionier der Nachhaltigkeit: Bereits in den Neunzigerjahren tüftelte er mit seinem Team an Möglichkeiten, die Qualität seiner Biere zu steigern und gleichzeitig Foodwaste, der beim Brauen im grossen Stil anfällt, radikal zu reduzieren. Die Reste des Brauprozesses sah er nie als Abfall, sondern als Grundstoffe für eine weitere Verwertung. So entstand rund um die Brauerei eine Kreislaufwirtschaft, wie sie bis zur Industrialisierung üblich war. Inzwischen verfüttert Appenzeller Bier Trester an Vieh und Felchen, stellt aus Restprodukten unter anderem Pizza und Chips her und gibt nur noch in die Biogasanlage, was anders (noch) nicht verwertet werden kann.

Locher sieht es als Aufgabe eines führenden Unternehmens, hinsichtlich Nachhaltigkeit eine Vorreiterrolle zu spielen und mit kreativen und machbaren Beispielen andere zum Nachahmen anzuregen. Die Brauerlehre machte Karl Locher bei Sonnenbräu in Rebstein, die Mälzerlehre bei Schützengarten in St. Gallen, den Abschluss als Braumeister bei Doemens in München. Danach lernte er weiter in Italien, England, im Tessin und in Freiburg.

Für eine bessere Qualität der Appenzeller Biere und auch aus Freude am Verfeinern der Rohstoffe lässt er die Braugerste auf den höchstgelegenen Feldern Europas anbauen, auf bis zu 1700 Metern über Meer. Damit schafft die Brauerei auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten für abgelegene Regionen in der Schweiz. Seit fünf Generationen ist Appenzeller Bier am Ufer der Sitter im Besitz der Familie Locher, seit mehreren hundert Jahren am gleichen Standort in Appenzell am Fusse des Alpsteins.



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