Keine Diktatur

Franck Giovannini verkörpert im Restaurant de l’Hôtel de Ville – B. Violier in Crissier Tradition und Fortschritt gleichermassen. Im Interview spricht der Ausnahmekönner über den Geist des Hauses und über das, was er anders macht als seine berühmten Vorgänger.
Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 23.08.2017 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2017

«Dieses Jahr brauchten wir vier Kilo schwarzen Trüffel pro Tag.»
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von Benoît Violiers Tod erfuhren?
Franck Giovannini: Ich sagte mir, dass so was nicht möglich ist. Vor allem nicht die Art. Wenn es ein Unfall gewesen wäre, aber so. Wir kannten uns sehr gut, seit über 20 Jahren. Benoît Violier war keine wankelmütige Person, es ging ihm immer gut. Ich war verwirrt. Es blieb aber nicht viel Zeit, um zu überlegen. Das Restaurant und die Mitarbeiter waren da. Benoît Violier starb an einem Sonntag, ich sprach mit Brigitte Violier. Sie sagte, dass sie weitermache, wenn auch ich bleibe.

Das mussten Sie überlegen?
Keine Sekunde. Wo sollte ich schon hin? Ich liebe dieses Haus und fühle mich aussergewöhnlich wohl hier. Am Montag informierten wir das Personal, und am Dienstag öffneten wir das Restaurant wieder. Wir sagten uns einfach, wir schauen, wie es geht.

Hatten Sie Zweifel?
Die hat man immer. Ich war mir sehr sicher, was unsere Qualität anbelangt. Allerdings wussten wir nicht, wie die Gäste auf die Situation reagieren würden. Aber es kam gut, die Unterstützung war riesig. Wir hatten jeden Morgen Anrufe von Gästen, die sofort eingesprungen wären, wäre ein Tisch kurzfristig annulliert worden. Wir haben in den letzten 18 Monaten noch besser gearbeitet als zuvor. Mein Vorteil war, dass ich das Haus und seinen Stil sehr gut kannte. Zusammengezählt arbeite ich seit 22 Jahren hier. Unter Benoît Violier war ich für die Brigade zuständig, die Karte kreierten wir immer zusammen.

Wie entsteht Ihr Menü heute?
Es ist ein anderer Prozess. Benoît Violier und ich waren gleich alt, arbeiteten schon lange zusammen und kannten uns in- und auswendig. Heute assistieren mir meine vier Souschefs Filipe Fonseca Pinheiro, Jeremy Desbraux, Damien Facile und Josselin Jacquet. Sie sind alle sehr talentiert, aber auch noch jung, keine 30 Jahre alt. Sie werden sich noch entwickeln. Die Kreativität eines Kochs ist mit 40 Jahren eine andere.

Wie meinen Sie das?
Die Erfahrung hilft, auch bei der Kreativität. Es geht ja nicht nur um den Geschmack. Die Gerichte müssen jeden Tag machbar sein, und zwar 60 Stück pro Service. Auch die Rentabilität ist entscheidend. Ich delegiere aber immer mehr Arbeiten, gebe bei einem Gericht zum Beispiel nicht mehr alles vor, so dass sie ihre eigenen Ideen einbringen können. Das ist mir wichtig. Es gibt hier keine Diktatur des Küchenchefs.

Wie hoch ist der Kostenanteil der Lebensmittel?
Nun, bei einem Bistro liegen sie unter 30 Prozent, damit können wir nicht mithalten. Wir sind eher bei 40 Prozent, das hängt von der Saison ab. Bei uns kommt aber auch einiges auf den Teller. Dieses Jahr brauchten wir zum Beispiel vier Kilo schwarzen Trüffel pro Tag. Und das Kilo kostete heuer nie weniger als 1000 Franken. Das macht pro Gast mindestens 40 Franken, nur für die Trüffel. Wir haben das Glück, dass bei uns viel Wein konsumiert wird, der ist rentabler als das Menü. Aber in der Schlussrechnung geht es auf, auch weil wir in der Küche praktisch keine Verluste haben, alles wird verwertet.

Wie wichtig sind für Sie regionale Lebensmittel?
Ich würde gerne nur mit Schweizer Produkten arbeiten, leider hat die Schweiz keinen Ozean. Meerfische sind wichtig für ein Haus wie das unsere. Und auch wenn ich nur mit Süsswasser­fischen arbeiten wollte, in der Qualität, wie wir sie brauchen, gäbe es nicht genug. Der Anteil an lokalen Produkten steigt bei uns aber jedes Jahr.

Gibt es eigentlich eine vegetarische Version des Menüs?
Ja und nein. Offiziell gibt es keine vegetarische Variante, aber wir fragen alle Gäste, was sie mögen und was nicht. Auf dieser Basis erstelle ich dann das Menü, auch vegan, wenn dies gewünscht wird. Drei Gerichte des Menüs sind sowieso fleischlos. Die vegetarische Version ist für uns einfach zu bewerkstelligen. Persönlich finde ich die vegane Küche zu extrem und auch nicht sonderlich gesund, aber wir machen sie. Das entspricht dem Geist dieses Hauses.

Beschreiben Sie diesen Geist.
Wir behandeln alle Gäste gleich, ganz egal, ob jemand reich ist oder nicht, ob jemand gut oder weniger gut gekleidet durch die Türe tritt, ob jemand Bankdirektor, Präsident oder Bauer ist. Jeder erhält die genau gleiche Aufmerksamkeit, die gleiche Qualität, auf dem Teller, beim Service oder beim Empfang. Man muss schon sehen: Restaurants wie dieses gibt es nicht viele auf der Welt.

Wie meinen Sie das?
Die meisten Drei-Sterne-Restaurants befinden sich in einem Hotel, sind also querfinanziert und haben weniger als 30 Plätze. Bei uns muss das Restaurant Geld verdienen, wir bieten 60 Plätze an, haben 58 Angestellte, und es funktioniert, trotz den teuren Produkten, die wir verarbeiten. Das Restaurant war seit Frédy Girardet immer rentabel. Ich finde das unglaublich.

Leckerbissen von Waadtländer Rispentomaten mit Avocado und Gemüsesprossen
Kalte Marinière mit Messer- und anderen Muscheln, angereichert mit jungen Erbsen und Bohnen leicht gesäuert mit Vino Santo.
Steinpilze und Pfifferlinge, mit Stückchen von echtem Stangensellerie und einer kräftigen Reduktion mit Savagnin des Alpes

«Irgendwann wird wohl ein Gericht kommen, das die anderen überragt.»
Kann man Ihre Küche als klassisch bezeichnen?
Damit habe ich kein Problem, es ist aber nicht ganz richtig. Unsere Küche definiert sich über die Produkte, das bringt es besser auf den Punkt. Wir arbeiten klassisch, verzichten zum Beispiel auf das Niedertemperaturgaren, entwickeln uns aber trotzdem ständig, werden besser. Unsere Gerichte sind sehr viel leichter und gesünder geworden. Wir haben praktisch keine Butter mehr in den Saucen, Sie können bei uns zehn Gänge essen und fühlen sich danach trotzdem nicht voll.

Es heisst, Sie hätten die Kalorien Ihres Menüs zählen lassen?
Das war bei der letzten Frühlingskarte. Zehn Gänge ergaben 1050 Kalorien, das ist nichts. Der Wein, das Brot und der Käse waren allerdings nicht einberechnet. Ich wusste, dass wir leicht kochen, aber nicht so leicht. Ich sage meinen Gästen jetzt immer, dass sie bei uns essen sollen, wenn sie abnehmen wollen.

Bestimmte Gerichte haben auf ewig einen Platz im Restaurant, zum Beispiel die legendäre Ente von Frédy Girardet oder die Schweinsfüsse mit Trüffel von Philippe Rochat. Welches Ihrer Gerichte wird dereinst diesen Status tragen?
Zuerst einmal finde ich es wichtig, solche Gerichte zu behalten, sie widerspiegeln die lange Tradition des Hauses. Allerdings haben wir bereits mit Benoît Violier begonnen, niemals die gleichen Menüs auf die Karte zu setzen. Klar, wir machen jedes Jahr etwas mit Morcheln oder Spargeln, aber immer etwas anders. Zurzeit ist mein Klassiker darum eher ein Stil als ein bestimmter Teller. Irgendwann wird aber wohl ein Gericht kommen, das die anderen überragt.

Wo liegt der Unterschied zwischen zwei und drei Michelin-Sternen?
Im Detail. Theoretisch müssten allein die Gerichte den Unterschied machen. Ich glaube, der Service ist genauso wichtig. Und natürlich müssen Produkte erstklassig sein.

Sie waren letztes Jahr quasi dazu verdammt, die drei Sterne zu halten.
Ich bin nicht leicht zu stressen, aber wenn wir einen Stern verloren hätten, wäre das sehr hart gewesen. Ich wäre der erste gewesen, der in Crissier einen Stern verliert. Ich glaube aber, dass wir die drei Sterne wirklich verdienen. Wir waren noch vorsichtiger als sonst, auch weil wir wussten, dass, wenn in dieser heiklen Periode etwas passiert, die Folgen katastrophal sein würden. Ich habe heute noch Mühe zu begreifen, dass es jetzt meine Sterne sind. Ich wurde so stark beeinflusst von Girardet, Rochat und Violier, es ist wirklich speziell für mich.

Wie sind Sie im Vergleich zu Ihren Vorgängern?
Zu nett. Ich bin sicher der Ruhigste von allen. Bei Girardet herrschte ein régime à l’ancienne, es wurde viel geschrien, unter Rochat war das dann besser, und Violier sah die Dinge nochmals anders. Ich bin wirklich keiner, der rumschreit. Ich liebe die Ruhe.

Und Sie sind der Erste, der nicht mehr am Pass steht. Et voilà, zum Schluss doch noch ein Bruch mit der Tradition.
Ich habe es ein paar Monate versucht, aber der Pass ist nichts für mich. Ich brauche die Nähe zu meiner Brigade. Am Pass dirigiert man die Köche, ohne sie wirklich zu sehen. Ich habe den Posten abgegeben und arbeite jetzt beim Fleisch oder beim Fisch, dort wo es mich grad braucht. So kann ich jemandem auch etwas zeigen oder einen Fehler korrigieren. Am Pass ist es dafür sowieso zu spät. Dass ich mit den Köchen arbeite, hat die Atmosphäre in der Küche komplett verändert. Eine solche Nähe gab es vorher nicht. Und für mich ist sehr wichtig, dass ich täglich kochen kann.

Franck Giovannini (43) wächst in Tramelan im Berner Jura sowie im Kanton Waadt auf. Bereits sein Vater wollte ursprünglich Koch werden, musste damals aber das Malergeschäft des Grossvaters übernehmen. Giovannini interessiert sich zuerst für den Bäckerberuf, absolviert dann aber eine Kochlehre in Apples bei Claude Joseph, einem ehemaligen Schüler von Frédy Girardet. Nach der Ausbildung fliegt Giovannini nach New York und heuert im Restaurant Lespinasse von Gray Kunz an. Auch dieser ist ein ehemaliger Schüler von Girardet. Weil das Englisch des damals 18-jährigen Giovannini nicht ausreicht, schickt Kunz ihn für ein Jahr nach Victoria in Kanada, behält ihm aber die Stelle frei. Giovannini bleibt zwei Jahre in New York. «Es war eine harte Zeit, ich musste mich durchschlagen.»

1995 kehrt er zurück in die Schweiz und erlebt im Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier als Chef de Partie den nicht ganz einfachen Chefwechsel von Frédy Girardet zu Philippe Rochat. 1999 fliegt Giovannini zusammen mit seiner Frau zurück in die Vereinigten Staaten, er arbeitet in Boston bei einem ehemaligen Souschef von Gray Kunz. Eineinhalb Jahre später kehrt er zeitgleich mit Benoît Violier zurück nach Crissier und wird Souschef. «Ich ging nur zurück, weil Benoît Violier auch kam.» 2007 erkocht sich Franck Giovannini am Finale des Bocuse d’Or in Lyon den dritten Rang. Es ist bis heute die beste Platzierung, die ein Schweizer jemals erreicht hat. Als Benoît Violier 2012 das Restaurant de l’Hôtel de Ville übernimmt, wird Giovannini sein Küchenchef. Am 31. Januar 2016 begeht Benoît Violier Selbstmord. Seit dem 2. Februar 2016 führen Brigitte Violier als Gastgeberin und Franck Giovannini als Küchenchef das weiter mit drei Michelin-Sternen und 19 Gault-Millau-Punkten ausgezeichnete Restaurant. Franck Giovannini ist verheiratet und hat zwei Kinder; die Tochter ist zwölf, der Sohn 14 Jahre alt.

Restaurant de l’Hôtel de Ville – B. Violier
Rue d'Yverdon 1
1023 Crissier
021 634 05 05
www.restaurantcrissier.com



Seite teilen

Bleiben Sie auf dem Laufenden – mit dem kostenlosen Newsletter aus der Salz & Pfeffer-Redaktion.

Salz & Pfeffer cigar gourmesse