Verkostung im Raster

Der Food-Sensoriker Patrick Zbinden hat eine Matrix entwickelt, mit der sich ein Lebensmittel oder Gericht multisensorisch analysieren und die Wahrnehmung visuell darstellen lassen. Wie es funktioniert, erklärt er gleich selbst.
Text und Grafiken: Patrick Zbinden
Veröffentlicht: 08.02.2022 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2022

Die Matrix unterstĂĽtzt einen beim Schreiben von Rezepten und der Planung von Gerichten.

Wer mit Essen arbeitet, weiss, dass es neben Zeit auch Kenner- und Könnerschaft braucht, um Zutaten, Lebensmittel oder ein Gericht treffend zu charakterisieren. Es geht aber auch anders: Mit einer Multisensorik-Matrix können alle ohne detailgenaue Vorkenntnisse schnell und effizient degustieren und beurteilen. Darüber hinaus unterstützt die Matrix einen beim Schreiben von Rezepten, hilft bei der Planung von Gerichten oder vereinfacht die richtige Positionierung einzelner Gänge innerhalb einer Menüfolge. Selbst Gastrokritikerinnen, Foodblogger und Co. bekommen damit ein praktisches Werkzeug an die Hand. Statt sensorische Attribute mühsam zu artikulieren, werden diese in der Matrix ganzheitlich visualisiert. Unabhängig davon, ob allein oder ob im Team verkostet wird: Eine ausgefüllte Matrix ist ein sensorisches Kardiogramm, das den kulinarischen Puls auf einen Blick wiedergibt.

Die folgende Anleitung hilft bei der Klärung allfälliger Diskussionspunkte rund ums Ausfüllen der Multisensorik-Matrix. Sie gibt zudem Tipps fürs bessere Degustieren und zeigt auf, wie Punkte über Erfolg und Misserfolg entscheiden.

Die Vergabe der Punkte beginnt mit der Gewichtung von Optik und Ästhetik. Wurden bei einem Gericht die Haupt- und Nebenrollen der Zutaten beachtet? Sorgen die Dekoelemente auf dem Teller für einen ästhetischen Mehrwert? Hat das Produkt ein ansprechendes respektive stylishes Äusseres? Lassen sich derlei Fragen mit Ja beantworten, gibt es viele Punkte und somit eine Markierung auf der oberen Hälfte der Zehnerskala. Wurden die Zutaten auf dem Teller jedoch ohne Sinn und Zweck dekorativ aufeinandergestapelt oder bei der Ästhetik sinnlos übertrieben, die visuelle Gewichtung, der Kontrast der Farben, das Verhältnis zum «Teller» oder die Serviceability vernachlässigt, dann wird bei der Vergabe der Punkte entsprechend gegeizt. Eine tiefe Punktzahl bekommen auch Lebensmittel oder Zutaten, die optisch nicht überzeugen.

Als nächstes kommt die Nase zum Einsatz. In welcher Intensität lässt sich der Duft von einem Gericht oder Lebensmittel erschnüffeln? Ist er einwandfrei und angenehm oder riecht es unangenehm und nach Fehler? Tipp: Rund 20 Prozent mehr Luft als bei der normalen Ruheatmung gelangt beim Schnüffeln mit stossweise beschleunigten Ein- und Ausatemstössen zum Riechorgan, was wiederum zur besseren Duftbeurteilung beiträgt. Wie bei allen anderen zu bewertenden Attributen auf der Multisensorik-Matrix stellt sich auch bei der Duftqualität die Frage: Geht da noch mehr oder ist das, was wahrgenommen wird, das Maximum? Eine als maximal fehlerfrei, komplex oder intensiv wahrgenommene Duftintensität erhält die höchste Punktzahl.

Das Aroma wird im Mund beziehungsweise retronasal in der Nase analysiert. Tipp: Beim Kauen während einigen Sekunden nicht einatmen, danach bei geschlossenem Mund stossweise durch die Nase ausatmen, ohne mit dem Kauen aufzuhören. Mit dieser Technik wird das Riechorgan stärker stimuliert und das Aroma lässt sich besser aufschlüsseln.

Häufig verwechselt werden die Begriffe Aroma und Geschmack. Folgende Spezifikation hilft diesbezüglich: Unter Geschmack werden in der Sensorik die Wahrnehmungen für süss, sauer, salzig, bitter und umami zusammengefasst. Entsprechend aufgeschlüsselt sind diese im Raster zu bewerten: Welche Geschmacksrichtungen sind erkennbar und, falls vorhanden, wie intensiv? Die Punktevergabe richtet sich danach.

In einem nächsten Schritt wird der Fett- beziehungsweise der Ölgehalt bewertet. Die Rasterung funktioniert an dieser Stelle wie folgt: Eine hohe Punktzahl bekommt ein Gericht, Lebensmittel oder Produkt, das aufgrund seines hohen Öl- und Fettgehalts förmlich trieft. Umgekehrt gibts keine Punkte, wenn sich keine Fett- oder Ölanteile ermitteln lassen.

Die Kategorien Temperatur, Schärfe und Textur beziehen sich auf Sinneseindrücke, die dem Tastsinn zugeordnet sind. Fühlt sich ein Gericht, Lebensmittel oder Produkt (extrem) kalt oder heiss an? Lässt sich eine Schärfe eruieren? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen werden auf der Matrix proportional zur Intensität bewertet. Bitte beachten: Die Beurteilung der Textur ist komplex, weil es unzählige Begriffe gibt, um deren Eigenschaften zu umschreiben. Bewerten lassen sich auch Kontraste zwischen verschiedenen Texturen wie etwa trocken und feucht, heiss und kalt, hart und geleeartig oder roh und gekocht. Da solche Gegensätze in der Lebensmittelsensorik generell erwünscht sind, führen sie auf der Matrix zu einer hohen Punktzahl. Tipp: Die Wahrnehmung in der Kategorie Textur korrespondiert in den meisten Fällen mit der Kauakustik. Es gilt: je höher der durchs Kauen ausgelöste Geräuschpegel, desto höher die Punktzahl.

Bezüglich Leichtigkeit und Fragilität erhält ein «schweres» Gericht, etwa eins mit sehr hohem Fleischanteil, oder ein besonders kompaktes Produkt wenig Punkte. Je leichter, zarter, dünner, lockerer, brüchiger und fragiler ein Lebensmittel, Gericht oder Produkt wahrgenommen wird, umso höher fällt die Punktzahl aus.

Die Bewertung der Komplexität ist in der Regel an den Grad der eingesetzten Koch- respektive Zubereitungstechnik(en) gekoppelt, während eine präzise und gekonnte Arbeitsweise die Punktvergabe im Bereich Ausarbeitung bestimmt. In beiden Kategorien gilt es zu beachten, dass eine übertriebene Komplexität oder der masslose Einsatz von Technik nicht immer gewollt ist beziehungsweise überfordern kann – und somit eine tiefe Punktzahl nach sich zieht. An dieser Stelle der Matrix muss für eine objektive Punktevergabe der Kontext berücksichtigt werden (etwa die Gericht- oder Preiskategorie).

Spätestens beim Kriterium Erlebnisfaktor und Emotionalität kommen zu den klassischen sensorischen Beurteilungsmerkmalen auch multisensorische Aspekte hinzu. Das heisst: Ähnlich einer Marke (wie beispielsweise Apple, Gucci und Co.) kann ein Gericht oder ein Produkt Emotionen hervorrufen oder für ein Esserlebnis sorgen. Eine solche Erfahrung wird an dieser Stelle der Matrix gewichtet.

Kurz vor Ende der x-Achse wird innegehalten und die Harmonie aller vorausgegangener Punkte beurteilt. War das Gericht «laut» in der Optik, aber geschmacklich flach? Hat die grobe Textur andere Wahrnehmungen überdeckt? Ein Ja auf solche oder artverwandte Fragen lässt das Produkt unharmonisch erscheinen und führt im Raster entsprechend zu einer tiefen Punktzahl.

Zum Schluss bleibt der Abgang zu bewerten. Dazu gehören alle olfaktorisch-gustatorischen Wahrnehmungen, die auftreten, nachdem das Produkt hinuntergeschluckt wurde. Ein langanhaltender Abgang bekommt viele Punkte auf der Intensitätslinie. Umgekehrt bleibt bei einem kurzen Abgang die Punktzahl bescheiden.

Und jetzt: Selber machen!
Ab sofort finden Sie jeweils auf der letzten Seite der Printausgabe von Salz & Pfeffer unsere Rätselrubrik Menu surprise: Erkennen Sie, für welches Lebensmittel, Gericht oder Produkt wir die Multisensorik-Matrix ausgefüllt haben? Senden Sie uns Ihren Lösungsvorschlag und nehmen Sie am Wettbewerb teil.



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