Fermentation statt Verschwendung
Was auf den Tisch kommt, ist geschmacksintensiv, oft überraschend, manchmal extrem. El Nagar ist kein Freund von zarten Aromen, er bearbeitet seine Zutaten so lange, bis sie das Maximum ihres Geschmacks hergeben. «Das ist mit vielen Versuchen, einem langen Lernprozess und einer nicht unbeträchtlichen Fehlerquote verbunden», sagt der Küchenchef selbst.
In einer Art Bücherwand, die sich die ganze Längsseite der Küchenbox entlangzieht, stehen grosse, zum Teil durchsichtige Behälter mit kaum identifizierbarem Inhalt und rätselhaften Beschriftungen: Beef Garum, Courge Kogi, Split Pea Soy Sauce. Sie lagern dort wochen- oder gar monatelang, bis die chemischen Prozesse ein frisches, festes Produkt in eine Sauce oder Paste verwandelt haben. «Gerade ist es uns gelungen, durch Fermentation aus altbackenem Brot einen Essig, eine Misosauce und einen Cenovis-ähnlichen Aufstrich zu machen», erzählt el Nagar. «Schon meine Grossmutter nutzte diese Technik, um damit Lebensmittel haltbar zu machen. Wir fermentieren, um komplett neue Produkte zu erhalten, aber auch, um alles, was in die Küche kommt, zu verwerten.»
Fünfter Tag für Bedürftige
Seit el Nagar als junger Koch von Mailand aufbrach und über Norwegen, die USA, Mexiko, Spanien, Russland, Singapur und Dubai nach Genf ins luxuriöse Ritz-Carlton Hotel de la Paix kam, experimentierte er mit Zutaten und Techniken. Dass er mit seiner eigenwilligen Kreativität in einem Luxushotel anecken würde, war abzusehen, und so beendete er bereits nach wenigen Monaten seinen Ausflug in die Welt der Hotellerie und eröffnete im Februar 2018 in Genf ein eigenes Restaurant: das Le Cinquième Jour, mit nur zwölf Plätzen und einem festen Degustationsmenü. Der fünfte Tag war für ihn der Wichtigste, denn nachdem er vier Tage lang kräftig zahlende Gäste bekocht hatte, servierte er Bedürftigen das gleiche Menü – umsonst.
Zwei Jahre lang ging das gut, dann stiess das Gourmetlokal an seine Grenzen. Der Andrang war kaum noch zu bewältigen und der Küchenchef überzeugt, dass er nun grösser denken musste. Im Februar 2020 gründete er die Non-Profit-Organisation Fondazione Mater, ein Restaurant mit viel mehr Plätzen sollte sogleich folgen. «Dann kam Covid», erzählt el Nagar, «die Welt der Gastronomie stand still.» Seine allerdings nicht – jedenfalls nicht lange. Da die Stadt alle Armenküchen geschlossen hatte und unzählige bedürftige Menschen nicht mehr mit warmen Mahlzeiten versorgt wurden, kümmerte sich el Nagar um Ersatz, trommelte Kollegen, Landwirtinnen und Sponsoren zusammen und produzierte zigtausend (köstliche) Mahlzeiten für all jene, die sonst nichts zu essen hatten.
Nächste Etappen im Blick
Parallel dazu suchte der Chefkoch nach neuen Räumlichkeiten, fand eine ehemalige Fiat-Werkstatt und eröffnete mit dem Refettorio einen Ableger des vom italienischen Drei-Sterne-Koch Massimo Bottura lancierten Suppenküchen-Konzepts. Noch benötigt sein Lokal private Sponsorinnen und Sponsoren, um das wohltätige Projekt zu finanzieren. Doch irgendwann soll es sich selber tragen. Dann wird es seinen idealistischen Gründer wohl verlieren: «Ich möchte weiterziehen, nach Mosambik, in den Libanon oder nach Marokko», sagt el Nagar. «Mit dem gleichen Konzept in ein schwierigeres Umfeld. Wir wollen unser Wissen weiterreichen, damit Bedürftige auch anderswo anständig und würdevoll mit gutem Essen versorgt werden.»