Bergell im Beutel

In ihrer kleinen Manufaktur verarbeitet Monika Müller, was «ihr» Bündner Tal kulinarisch hergibt. Die jüngste Kreation der Tüftlerin: ein würziger Tee aus dem schmalblättrigen Weideröschen, nach traditionellem Vorbild gebraut.
Text: Dominik Flammer – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 29.08.2023 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2023

«Nicht die Lage ist entscheidend, sondern der Erntezeitpunkt.»

Mit ihren rosafarbenen Blütenständen sind die stattlichen Blumen im Sommer auf den im Wind wogenden Feldern, an Weg- und Strassenrändern und auf vielen Brachen nicht zu übersehen. Das schmalblättrige Weideröschen wuchert im Bergell und im Engadin gern auch in ungenutzten Ferienhausgärten oder auf Bauschutt. Als Pionierpflanze erobert es all jene Plätze, auf denen gebaut, umgegraben oder aufgeschüttet wurde. Bis zwei Meter hoch werden die robusten Gewächse, die von Juni und August in den meisten Bündner Alpentälern mit anderen Blumen um die Wette blühen.

Kaum bekannt ist jedoch, dass das schmalblättrige Weideröschen vor allem im Osten Europas, aber auch darüber hinaus, zu einem würzig-kräftigen Kräutertee verarbeitet wird, und zwar mit einem klassischen Verfahren, wie man es von der traditionellen Teepflanze kennt, der Camellia sinensis. Die Blätter des Weideröschens werden nach der Ernte «gerollt» und im Zuge dessen aufgebrochen, dann der Oxidation überlassen und anschliessend getrocknet. Dieser Prozess, den man auch Teefermentation nennt, beschert dem Weideröschen geschmacklich durchaus eine Ähnlichkeit mit dem klassischen Tee – mit dem Unterschied, dass das Getränk kein Koffein enthält.

Mit den gemeinhin bekannten Fermentationstechniken beschäftigt sich auch Monika Müller, seit sie vor etwas über einem Jahr auf den Weideröschentee aufmerksam wurde. Erste Versuche mit sogenannten Lagen-Tees hat sie inzwischen wieder fallen gelassen: «Nicht die Lage ist entscheidend, sondern der Erntezeitpunkt», sagt die innovative Lebensmitteltüftlerin aus dem Bergell – und serviert dazu gleich einen erfrischenden und würzigen Weideröscheneistee, den sie mit Holunderblüten und gefriergetrockneten Erdbeeren aus der eigenen Manufaktur aromatisiert hat. «Das kommt dabei raus, wen man die Blätter pflückt, sobald sich die noch geschlossenen Blütenblätter zu verfärben beginnen.» Das Resultat überzeugt und hat das Potenzial, sich zu einem beliebten Softgetränk zu entwickeln.

Vom Geschmack des Kräutertees überrascht, will sich Müller nun mit weiterführenden Fermentationstechniken beschäftigen, um mit dem Weideröschentee künftig möglichst nahe an die traditionellen grünen oder weissen Tees heranzukommen. «Das müsste möglich sein, erfordert aber noch einiges an Recherche», ist sie überzeugt. Dass insbesondere in Osteuropa nach wie vor ordentlich Wissen vorhanden ist, steht ausser Frage: Als koptischer oder russischer Tee ist er in seinen Stammlanden heute noch immer weitverbreitet. Bekannt ist das Gebräu aus fermentierten Weideröschenblättern auch unter dem Namen Koporski Tschaj.

Inspirieren lässt sich die gebürtige Thurgauerin von Büchern, Besuchen bei anderen Produzentinnen und Produzenten, aber auch von Recherchen in Archiven. Und das nicht nur im Hinblick auf Kräutertees. Während der Covid-19-Pandemie begann Müller, in den Beständen des Castello Castelmur, einem stattlichen Zuckerbäckerpalast im Talkessel von Stampa, in Quellen aus einer Zeit, als auch die Bergeller zu Hunderten auswanderten und sich im Ausland als Zuckerbäcker betätigten, nachzuforschen und erfuhr, wie auf diesem Weg etwa Rezepte aus Südfrankreich zurück ins Bündner Alpental kamen. Die Geschichte brachte Müller auf die Idee, einen Bergeller Nougat herzustellen: «Zwar nicht mit Mandeln oder Pistazien, die von den hiesigen Emigranten früher dafür verwendet wurden, dafür mit Bündner Walnüssen.» Schliesslich möchte Müller im Wesentlichen auf Zutaten aus dem Bergell setzen, vereinzelt auch aus den benachbarten Regionen.

Im alten Postgebäude des Dorfes Vicosoprano hat sich Müller innert zwei Jahren eine kleine, aber hochprofessionell eingerichtete Manufaktur aufgebaut. Zuvor hatte sie nach der Ausbildung in Hospitality- und Facility-Management erst in Basel 15 Jahre als Gastronomin auch im Catering Erfahrungen gesammelt, dann gemeinsam mit ihrem Partner Christian Speck auf der Bergeller Sonnenterrasse von Soglio den Palazzo Salis geführt, einen Sommerbetrieb mit Hotelzimmern und Gastronomie. Schon damals verwöhnte Müller ihre Gäste fast ausschliesslich mit heimischen Gerichten aus ebenso heimischen Produkten.

Als die Zeit im Palazzo zu Ende ging, war für Müller klar, dass ihre Zeit im Bergell noch lange nicht abgelaufen war. Allerdings hatte sie keine Lust mehr, nochmals eine Gastronomie zu übernehmen, und begann, sich stattdessen auf das zu konzentrieren, womit sie sich schon zuvor intensiv beschäftigt hatte: die Suche und den Anbau von heimischen Beeren und heimischem Obst. «Mir war es schleierhaft, wieso im Bergell trotz des privilegierten Klimas so wenig Früchte angebaut werden», begründet sie ihre Neugier, die sie schliesslich auch dazu gebracht hat, in ihrem Wohnort Soglio sowie im etwas südlicher liegenden Castasegna eigene Gärten anzulegen. «Nicht um Obst oder Beeren für den Verkauf zu züchten, sondern vor allem, um herauszufinden, was bei uns gut und einigermassen ertragreich wachsen könnte.»

Nebst dem Nougat wurde die leidenschaftliche Köchin auch zur Botschafterin für die Bergeller Rauchkastanien, eine aussergewöhnliche Delikatesse, die nicht zuletzt dank ihrem Engagement längst den Weg in die Spitzengastronomie gefunden hat. Rasch hatte sich gezeigt, dass die heimische Ware für Marrons glacés zu klein und qualitativ nicht einheitlich genug ist, dafür entwickelte Müller aus den trockenen Kastanien eine süsse, rauchige Paste sowie aus den noch rauchigeren, aber nach wie vor nach der Frucht schmeckenden Schalen auf Anregung von Koch Hansjörg Ladurner hin einen Sirup. Müllers neuster Coup im Marroni-Business: ein Rauchkastanieneis, für das sie die Grundmasse aus karamellisierten Kastanien herstellt, welche die Glacemacher von Glatsch Malnot weiterverarbeiten.

Und auf noch ein Feld hat sich Müller inzwischen spezialisiert: Trekking-Nahrung. Dafür nimmt sie statt Obst oder Beeren überwiegend Gemüse, Getreide oder Hülsenfrüchte, die sie lyophilisiert, also mit einem modernen Gerät «gefriertrocknet». Der Prozess entzieht den Rohstoffen das ganze Wasser, nicht aber den Geschmack und die Vitamine. Im Sortiment hat die Bergeller Food-Innovatorin vier fertige Gerichte, darunter eine Buchweizenpasta und einen Gersteneintopf.

Vitto GmbH, Strada Cantonale 192, 7603 Vicosoprano, 079 646 72 42, vitto.ch

Verkostung in Zürich
Am 4. September stellt Monika Müller ihren Weideröschentee anlässlich der Produzenten-Arena von Soil to Soul in Zürich vor. Der Anlass, mitorganisiert vom Büro Public History Food und moderiert von Autor Dominik Flammer, findet von 14.30 bis 17 Uhr im Zentrum Karl der Grosse statt. Der Tee kann in diesem Rahmen auch degustiert werden. Das Ticket kostet 15 Franken.
soiltosoul.ch



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