04.11.2025

Nose to tail im Geschirrschrank

Text: Karin Hänzi – Fotos: Stefan Kaiser
Wer im Bieler Restaurant Ecluse isst, tut dies mit etwas Glück von einem Teller mit Geschichte. Geht hier Geschirr zu Bruch, landen die Scherben früher oder später bei Nicole Lehner, die aus ihnen neue Teller macht und sie mit Rüstabfällen aus der Ecluse-Küche glasiert. Kreislaufwirtschaft in Bestform.
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Was mit Porzellanabfällen geschieht, wusste Nicole Lehner. Ist Keramik einmal ausgehärtet respektive gebrannt, schmilzt sie nicht mehr, nicht einmal in der Kehrichtverbrennungsanlage. Sie landet darum auf dem Bauschutt. Wie aber geht es danach weiter? Diese Frage sollte der Startschuss zu einem Recyclingprojekt werden, das derzeit im Bieler Restaurant Ecluse seine zweite Testphase durchläuft. Aber beginnen wir von vorn: Nachhaltigkeit spielt im Schaffen von Nicole Lehner seit jeher eine wichtige Rolle. Als Industrie- und Produktdesignerin kombiniert sie die Materialien immer so, dass sie sich am Ende des Produktlebens problemlos voneinander trennen und separat recyceln lassen. Auch das Handwerk an sich und der Fokus auf eine Produktion in der Schweiz sind zwei Konstanten im Berufsleben der Buchserin. Dabei zeigt sie keine Scheu vor neuen Techniken. So wird sie zum Beispiel kurzerhand selbst aktiv, als sie niemanden für die Produktion ihrer Keramikelemente findet, und arbeitet seither regelmässig mit Porzellan. Inzwischen gibt sie sogar Porzellankurse – und gelangt so irgendwann zur am Anfang dieses Textes gestellten Frage: Was passiert mit all den Porzellanabfällen, nachdem sie auf dem Bauschutt gelandet sind?

Wertvolle Ressource statt Abfall
«Meine Recherche hat rasch gezeigt, dass alles in den Boden gelangt, weil Bauschutt vergraben wird.» Eine Tatsache, an der sich Lehner aus zweierlei Gründen stört: «Erstens machen wir unsere Böden damit langfristig kaputt. Zweitens werfen wir wertvolles Material weg, aus dem sich, so haben die vergangenen drei Jahre gezeigt, durchaus noch sehr viel machen liesse.» Ihr Ehrgeiz ist geweckt, bevor sie weiss, ob ihr Vorhaben gelingt: Statt Keramik aus neuen Rohstoffen herzustellen, will sie solche mit einem möglichst hohen Recyclinganteil fertigen. «In Zeiten von Ressourcenknappheit und Umweltverschmutzung können wir es uns schlicht nicht mehr leisten, derart hochwertiges Material einfach zu verschwenden. Vielmehr müssen wir Systeme schaffen, die den heutigen Abfall als die wertvolle Ressource nutzen, die er in vielen Fällen ist.»

Stichwort Kreislaufwirtschaft. In einem ersten Test verwendet sie hochgebrannte, aber unglasierte Porzellanabfälle aus ihrer eigenen Produktion. Dazu zerkleinert sie die Keramikscherben in einer Stein- und einer Schlagkreuzmühle, mischt sie mit neuer Porzellanmasse und giesst den Schlickerguss in Gipsformen. In zahlreichen Tests spürt sie auf, mit welcher Korngrösse und welchem Recyclinganteil das Material am stabilsten und dichtesten wird, und spart am Ende 50 Prozent Primärrohstoffe ein.

Perfekte Scherbenquelle
Weil die Resultate vom Ausgangsmaterial abhängen, will sie weitere Tests mit möglichst verschiedenen Keramikscherben angehen. Reine Keramiksammelstellen indes gibt es in der Schweiz nicht. Also überlegt sie, wo am meisten Scherben anfallen, und landet alsbald in der Gastronomie. Sie schreibt verschiedene Restaurants an, vornehmlich kleinere Betriebe mit einer nachhaltigen Philosophie, «weil ein Grundinteresse am Thema gegeben sein muss», so Lehner. «Mein Vorhaben ist auch für die Betriebe mit Aufwand verbunden und bedingt darum schon eine gewisse Offenheit.» Beim Ecluse Biel ist davon jede Menge vorhanden. Laura und Sandro Bianchin verschreiben sich hier seit 2021 lokalen Produkten und dem Grundsatz, möglichst alles davon zu verwenden. So werden schon mal Glaces aus Nussschalen aufgetischt, die Haut von Schweinsköpfen zu Tacos umfunktioniert und Rinderlungen zu Amuse-Bouches gemacht.

«Unser Interesse war folglich sofort geweckt, als Nicole sich bei uns gemeldet hat», so Sandro Bianchin. «Solches Geschirr passt perfekt zu unserer Philosophie. Für uns war darum klar: Sind die Teller und Schalen funktionstüchtig, praktisch und finanzierbar, sind wir dabei.» Für die entsprechenden Tests experimentiert Lehner einerseits mit Ausgangsmaterialien, andererseits mit Glasurzusammensetzungen. Auch hier möchte sie so weit möglich mit Reststoffen arbeiten und nimmt dafür nach einem Besuch im Ecluse Nussschalen und Kartoffelschalen mit ins Atelier.

Das Resultat variiert je nach Ausgangsmaterial. Ihre Testläufe dokumentiert Nicole Lehner darum akribisch.
Das Resultat variiert je nach Ausgangsmaterial. Ihre Testläufe dokumentiert Nicole Lehner darum akribisch.
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Bevor aus den Keramikscherben neues Geschirr wird, zerkleinert Nicole Lehner sie in einer Steinmühle und mischt sie mit neuer Porzellanmasse zu einem Schlickerguss.
Bevor aus den Keramikscherben neues Geschirr wird, zerkleinert Nicole Lehner sie in einer Steinmühle und mischt sie mit neuer Porzellanmasse zu einem Schlickerguss.
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Bestes Storytelling
«Ascheglasuren aus Pflanzen haben in der Keramikgeschichte eine lange Tradition, gehören sogar zu den ältesten Glasuren überhaupt», erklärt Lehner. Unterstützung erhält sie von einem Keramiker, der seit Jahren mit Ascheglasuren arbeitet und sie grosszügig an seinem chemischen Wissen teilhaben lässt. «Quarz und Ton, die seine Glasuren neben Asche enthalten, habe ich durch Altglas und Keramikabfälle ersetzt und mit Aschen aus verschiedenen Reststoffen angereichert.»

Noch befinden sich die meisten Glasuren respektive deren Gastronomie-Tauglichkeit in der Entwicklungsphase, bereits festhalten lässt sich aber, dass von den pflanzenbasierten jene aus Kartoffelschalen und Karottenkraut am vielversprechendsten sind. Für Bianchin ein regelrechter Jackpot: «Das Storytelling ist absolut grossartig. Teller aus unserem alten Geschirr und unseren Rüstabfällen, befüllt mit Essen, dessen Rüstabfälle eventuell wieder zu Glasuren werden – eine bessere Geschichte kannst du deinen Gästen gar nicht erzählen.»

Angetan sind Laura und er auch von Nicole Lehners zweiter Gastro-Testserie. «Das Geschirr bewährt sich, verträgt die Abwaschmaschine ebenso wie speditiven Service und macht auch optisch sehr viel her. Stehen und fallen wird das Projekt unserer Meinung nach mit der Skalierbarkeit der Menge. Soll das Recyclinggeschirr einen tatsächlichen Impact haben, muss es innert nützlicher Frist bestell- und verfügbar sein.»

Better together
Impulse, die Lehner schätzt und aktiv sucht. Das Recyclingprojekt befindet sich nach wie vor in der Anfangsphase und hat entsprechend viele Unbekannte. Allein der Einfluss der verschiedenen Rüstabfälle ist immens. So ergeben zum Beispiel Schalen von Lagerkartoffeln andere Glasuren als solche von Frühlingskartoffeln. Gestalterische Feinheiten, die Nicole ebenso beschäftigen wie das grosse Ganze. Neben der Abfallverwertung in gegossener Porzellanform träumt sie unter anderem von einem Recyclington, der sich drehen liesse, und auch die Idee von hundertprozentigem Recycling lässt sie nicht los. «Dazu bräuchte es allerdings eine andere Verarbeitungsmethode, weil die Masse zum Giessen zu krümelig wäre.»

An Ideen also mangelt es nicht. Angegangen werden sie, wie Lehner bisher alles angegangen ist: Schritt für Schritt. «Oft führt der eine zum nächsten, weil in jedem Schritt neue Erkenntnisse und mit ihm neue Möglichkeiten liegen.» Vorderhand ist sie dankbar um alle Türen, die sich ihr öffnen, und den Austausch, der sich daraus ergibt. «Mahlen etwa kann ich die Scherben im Zementwerk Siggenthal. Nicht unbedingt der ökologischste Ort, trotzdem haben sie mir ihre Infrastruktur ohne zu zögern zur Verfügung gestellt – und im Gegenzug besten Anschauungsunterricht in Kreislaufwirtschaft erhalten.»

Für die Gipsformen wiederum kann sie auf die Unterstützung des ehemaligen Produktionschefs der Porzellanfabrik Langenthal zählen. «Solche Kontakte und Inputs sind Gold wert.» Für Lehner ist darum klar: Gäbe es andere Kreative, die an der gleichen Sache tüfteln – sie würde ihr Know-how sofort mit ihnen teilen.

Kontaktakdressen

Nicole Lehner
Brummelstrasse 39
5033 Buchs
goldenbiscotti.ch

Restaurant Ecluse

Schüsspromenade 14d, 2501 Biel
ecluse-biel.ch