04.06.2025 Salz&Pfeffer 2/25

Von verkannten Delikatessen

Text: Andreas Bättig – Fotos: Jürg Waldmeier
Küchenchef und Hobbyangler Lenny Hartmann fischt und sammelt Zutaten für seine Küche im Luzerner Kulturhof Hinter Musegg in der Natur. Dabei setzt er auch auf oft ignorierte Arten wie Barbe und Alet.
Findet am Ufer der Reuss seinen Ausgleich: Küchenchef und Hobbyangler Lenny Hartmann
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Eigentlich ist es perfektes Angelwetter an diesem Morgen. Der Himmel ist leicht bewölkt, ab und zu bricht die Sonne durch. Lenny Hartmann, der neue Küchenchef des Kulturhofs Hinter Musegg in der Stadt Luzern, steht in voller Montur an der Reuss: Filzhut, Outdoorhose, Wanderschuhe. Doch Barbe und Alet, die Zielfische des Tages, lassen sich heute nicht so leicht ködern.

An Fischen mangelt es aber nicht, im Gegenteil. Am Grund stehen 20 bis 30 Alets. Doch selbst als der passionierte Angler ihnen den Köder direkt vor das Maul hält, rührt sich nichts. «Das wird heute schwierig. Die scheinen keinen Hunger zu haben», stellt er fest. Dabei hat er bei der Wahl des Köders keine Kosten und Mühen gescheut: Ein Laugentessinerli hat Hartmann extra für die Feinschmecker vom Bäcker geholt. «Die mögen es salzig», erklärt der 29-Jährige. Manchmal spiesst er zusätzlich sogar ein Stück Käse auf den Haken.

Dass Hartmann mit Alet und Barbe auf zwei Weissfische angelt, ist ungewöhnlich. Während Forelle, Egli, Hecht, Zander und Felchen sowohl bei Anglern als auch in der Küche hoch im Kurs stehen, meiden die meisten Alet und Barbe. «Sie haben den Ruf, zu viele Gräten zu haben und schlecht zu schmecken. Beides kann ich nicht nachvollziehen», sagt Hartmann. Es komme auf die richtige Zubereitung an. Ausserdem passen Barbe und Alet perfekt in seine Küchenphilosophie: «Im Gegensatz zur Forelle gibt es diese Fische im Überfluss. Es ist viel nachhaltiger, diese Arten zu verwerten.»

Fische sind nicht die einzigen Lebewesen, die der Luzerner regelmässig aus der Reuss holt. Für Schlagzeilen sorgte er in der Lokalpresse, als bekannt wurde, dass er regelmässig mit Taucherbrille und Schnorchel nach der Grobgerippten Körbchenmuschel taucht, um sie im Restaurant Drei Könige, seinem ehemaligen Arbeitgeber, auf die Speisekarte zu setzen. Es handelt sich um eine invasive Art, die aus Asien eingeschleppt wurde: «Man muss sie gut wässern, dann schmeckt sie sehr gut», sagt der Naturliebhaber.

Bei sich sein am Wasser
Nach einer Stunde am Wasser wird es plötzlich hektisch. Ein Alet hat angebissen. Der Fisch zappelt wild, die Wasseroberfläche schäumt. Doch keine zwei Sekunden später ist er schon wieder verschwunden. Der kämpferische Fisch konnte sich vom Haken befreien, der an der Reuss gemäss Vorschrift ohne Widerhaken sein muss. Lenny Hartmann nimmt es gelassen: «Das gehört zum Fischen dazu.» Ohnehin sei er nicht der Typ, der verbissen um jeden Preis Fische fangen will. «Für mich ist Angeln Entspannung pur. Hier am Wasser kann ich richtig abschalten. In diesen Momenten bin ich ganz bei mir.»

Angeln ist Hartmanns Leidenschaft, seit er denken kann. Sein Grossvater hat ihn immer begleitet und ihm alles erklärt. Seitdem fischt er nicht nur auf Alet oder Barbe, sondern auch auf viele andere Fischarten. «Den Hecht mag ich besonders, weil er ein starker Kämpfer ist und sein Fleisch so herrlich fest und aromatisch schmeckt.» Bei allen Fischen ist ihm der respektvolle Umgang wichtig. Dazu gehöre auch, den Fisch so gut wie möglich zu verwerten.

Nach mehr als zwei Stunden am Wasser hat Hartmann noch keinen Fisch an Land gezogen. Es fällt ihm sichtlich schwer, sich geschlagen zu geben. Doch ohne Fisch muss er an diesem Tag nicht nach Hause fahren. Sicherheitshalber ist er schon am frühen Morgen ohne Reporter und Fotografen im Schlepptau ans Wasser gegangen und hat einen Alet landen können.

Den packt er jetzt aus und schuppt ihn gleich an der Reuss. «Sonst hast du die ganze Küche voller Schuppen, die du noch Tage später in jeder Ecke findest», sagt er. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Kulturhof Hinter Musegg, nur fünf Gehminuten vom Wasser entfernt und wunderschön hinter der Luzerner Museggmauer gelegen. Hier gibt es nicht nur eine Gastronomie; auch Hochlandrinder, Zwergziegen, Spitzhaubenhühner, Alpakas und Minischweine leben auf dem Hof, der auf eine 400-jährige Geschichte zurückblicken kann.

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Neue Küche, neue Karte
Seit Anfang des Jahres ist der Kulturhof Hinter Musegg die neue Wirkungsstätte von Hartmann. «Es ist ein Traum, hier zu arbeiten», sagt er. Nicht nur, dass eine neue Küche nach seinen Wünschen eingebaut wurde. Auf dem Biobetrieb wird Nachhaltigkeit grossgeschrieben. «Das passt zu mir. Ich verarbeite fast nur Produkte, die direkt vor der Haustür gefunden, gejagt oder gefangen werden.»

Von Donnerstag bis Samstag gibt’s abends ein Menü à la carte. Tagsüber stehen den Gästen Snacks zur Auswahl. Das Restaurant heisst Einzelgäste, aber auch Gruppen willkommen. Neben Hartmann steht auch sein junger Koch Deewyn Wiss in der Küche. «Deewyns Meinung ist mir sehr wichtig, aber auch die des Serviceteams. Wir arbeiten auf Augenhöhe miteinander. Ich möchte, dass sich die Gastronomie von veralteten hierarchischen Strukturen löst», sagt Hartmann.

Seine kulinarische Vision beschreibt er folgendermassen: «Was man hier erwarten kann, ist eine regionale, zeitgemässe Küche. Da passt der Alet bestens dazu.» Hartmann nimmt den Fisch aus seinem Rucksack und legt ihn vor sich hin auf den Tisch in der Küche. «Diese Fische haben oben wie auch unten eine komplette Y-Gräte; dies erschwert das Filetieren. Das Fleisch ist zudem nicht so fest wie bei anderen Fischen», erklärt er.

Die feine Fleischstruktur macht die Fische aber perfekt für Fischkroketten. «Zuerst produziere ich eine Füllung», erklärt er, während er den Fisch in kleine Würfel schneidet und mit Ei, Sahne und Dill vermischt. Diese Mischung friert er ein und lässt sie dann durch den Pacojet laufen. Aus dem so entstandenen Brät formt der Koch mit einem Glacelöffel Bällchen, die er paniert in heisses Öl gibt, um sie zu frittieren.

Vom Partytiger zum Küchenchef

Während die Kroketten langsam braun und knusprig werden, erzählt Hartmann von seinem Weg in die Gastronomie. Der Anfang war nicht leicht. Seine Lehre absolvierte er in zwei Betrieben. Die ersten beiden Jahre arbeitete er im Apart-Hotel Rotkreuz bei Thomas Gassner. «Ich war einer, der oft zu spät kam, vor allem Party im Kopf hatte und dazu noch schlecht in der Schule war», sagt Hartmann. Die Folge: Der Lehrvertrag wurde aufgelöst. «Das war eine harte Landung. Aber auch gut. Denn es hat mich auf den Boden der Tatsachen geholt.»

Das dritte Lehrjahr durfte er bei Zeno Friedli in Zug absolvieren, der zu seinem Mentor wurde: «Er war der herzlichste Chef, den ich je hatte. Er hatte viel Geduld.»

Nach der Lehre führte ihn sein beruflicher Weg über verschiedene Stationen ins Restaurant 3 Könige in Luzern, wo er sechseinhalb Jahre blieb und unter Thomas Bischof zum Souschef aufstieg. «Sie haben mir alle Freiheiten gegeben, die ich mir wünschen konnte. Dafür bin ich unendlich dankbar.»

Hartmann bezeichnet sich selbst als «Sammler und Jäger». Neben dem Angeln geht er gerne Pilze suchen und sammelt Wildkräuter auf der Wiese. Einige der Kräuter, die sein Kollege Deewyn Wiss auf der Wiese vor dem Restaurant gepflückt hat, werden nun auch als Beilage für die Fischkroketten verwendet.

Inzwischen sind die Kroketten goldbraun und zu grossen Kugeln geworden. Hartmann legt sie auf Sauerkraut, gibt eine Beurre-Blanc dazu und streut die Wildkräuter darüber. Ein herzhafter Biss in die Krokette zeigt: Sie schmecken nur dezent nach Fisch und harmonieren hervorragend mit dem Sauerkraut.

Auch Hartmann ist zufrieden. «Frischer geht’s nicht», resümiert er. Bald will er wieder am Wasser stehen. Und auf viele hungrige und etwas weniger heikle Esser hoffen.

Gasthof-Oase mitten in der Stadt

Im Kulturhof Hinter Musegg in Luzern wird seit fast 400 Jahren Landwirtschaft betrieben. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der «Hof und Gut Hinter-Musegg» im Jahr 1636. Seither wechselte die Liegenschaft mehrfach den Besitzer, wurde abgebrannt, neu aufgebaut und immer wieder umgestaltet – doch eines blieb: die tiefe Verwurzelung in der lokalen Geschichte und das Engagement für Mensch, Tier und Natur.

Seit 1945 ist die Stadt Luzern Eigentümerin des Bauernhofes. Ab dem Jahr 2000 prägten Pia und Walter Fassbind mit ihrer biologischen Bewirtschaftung den Kulturhof neu. Mit Schottischen Hochlandrindern, Katzen und Hündin Mira entstand eine kleine Oase – ein Ort, an dem sich Tiere, Pflanzen und Menschen wohlfühlen.

Gebäude und Stallungen waren jedoch baufällig, die Zukunft ungewiss. 2013 wurde die gemeinnützige Stiftung Kultur- und Lebensraum Musegg gegründet und damit der Grundstein für ein innovatives Projekt gelegt. Mit der Eröffnung der Hofbeiz 2015, dem Lehrpfad 2016 und dem ersten Sommerfestival 2018 entwickelte sich der Kulturhof zur festen Grösse im Quartier und darüber hinaus.

Schulklassen erleben hier Natur mit allen Sinnen, Nachbarskinder kümmern sich um Tiere, es wird gesungen, gegärtnert und gefeiert. Auch Nachhaltigkeit wird gelebt – sichtbar etwa im SDG-Pfad oder im Hofladen, der regionale Bioprodukte anbietet.

2023 folgte ein weiterer Meilenstein: Die Hofbeiz wurde mit drei von drei Sternen von Bio Cuisine ausgezeichnet – als erste in der Schweiz.


Kulturhof Hinter Musegg, Diebold-Schilling-Strasse 13, 6004 Luzern, 041 412 19 31, hinter-musegg.ch