Angezapft

Rechnen mit Bier

Carole Groeflin

«Jeder Mensch hat es verdient, dass du dir für die Länge eines Biers Zeit für ihn nimmst.» So lautet der Grundsatz meines ehemaligen WG-Kollegen Fabio. Denn die Dauer, die für das Trinken eines Biers benötigt wird, sei gerade richtig, um zu entscheiden, ob es noch eins mehr werden soll oder eben nicht, wurde mir da am Küchentisch in Luzern erläutert. Zwei Menschen würden während des Konsums eines gemeinsamen Biers im Gespräch die jeweilige Sympathie oder Antipathie unverkennbar zutage fördern.

Ich war belustigt ob dieser für mich neuen Masseinheit für Zeit. Fabios Philosophie leuchtete mir natürlich total ein: Diese halbe Stunde reicht mir gerade, um einen ersten Eindruck meines Gegenübers zu gewinnen. So leistete ich auch keinen grossen Widerstand, als er mir an der nächsten Feier einen Namensvetter vorstellte und mir im gleichen Moment auch ein neues Bier reichte mit den Worten: «Nimm dir eine Bierlänge Zeit für ihn.»

Dass mir das Rechnen mit Bier im Kopf leichter fällt, habe ich früh gelernt: Einen Fünfliber wog ich gern mit dem Gegenwert eines Biers auswärts auf und in einer Zwanzigernote sah ich lange Zeit das Äquivalent von vier Bieren. Wenn ich früher also über einem Kaufentscheid brütete, so tat ich das oft mit der Menge an Bier im Kopf, die ich stattdessen gemeinsam mit Gspänli im Ausgang konsumieren könnte. Dieser Gedankengang mag absurd klingen, hat mich aber vor einigen unnötigen modischen Anschaffungen bewahrt.

Heute sehe ich vor meinem geistigen Auge keine zehn frisch gezapften Biere beim Anblick einer Fünfzigernote mehr aufgereiht. Ich rechne inzwischen anders mit Bier. Mit den zunehmenden Lebensjahren hat sich bei mir unbewusst ein neues System eingeschlichen: Die Sympathie meiner Umwelt messe ich im Stillen daran, mit wem ich ein Bier trinken gehen würde. Diese Frage mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Doch finde ich sie gerade deswegen so genial: Es ist für mich ein untrügliches Bauchgefühl, auf das ich hören kann.

Es geht bei der hypothetischen Frage um nicht viel mehr als eine halbe Stunde Zeit am Feierabend. Und doch ist sie für mich ein deutlicher Gradmesser. Denn meine Intuition ist laut und deutlich. Falls ich doch mal in die Situation komme, dass mich jemand um ein Bier bittet und ich nicht auf Anhieb begeistert bin, dann denke ich an Fabio. Und nehme mir zumindest diese eine Bierlänge Zeit für einen Mitmenschen.

Carole Gröflin

Präsidentin der Gesellschaft zur Förderung der Biervielfalt
Ausgabe: Salz & Pfeffer 6/2022 / Datum: 15.11.2022