Angezapft

Volles Glas, gutes Glas

Cenosillicaphobia ist der wissenschaftliche Name für die Angst vor einem leeren Glas. Ceno kommt vom griechischen Wort kenos, was leer bedeutet. Sillica bezieht sich auf Quarz, ist in diesem Fall also für Glas gedacht. Schliesslich handelt es sich um eine Phobie, sprich: eine Angst. Gelesen habe ich den Ausdruck zum ersten Mal an der Wand einer Bar in Bournemouth. Vor mir stand ein frisch gezapftes Bier, die Welt war für mich vollkommen in Ordnung. Ich musste ob der neuen Wortschöpfung schmunzeln und schrieb diese den findigen Barkeepern zu. Die Wanddeko hielt ich mit meinem Handy fest und teilte das Foto mit einer Gruppe ehemaliger Studiengenossen, mit denen ich neben einem Abschluss auch eine feuchtfröhliche Vergangenheit teile. Ich war mir sicher, dass es sich bei diesem Zungenbrecher und clever konzipierten Wort vielmehr um eine Bieridee als um ein im wissenschaftlichen Umfeld breit erforschtes Phänomen handelt. Gemeinsam mit meinen ehemaligen Kommilitonen gelang ich schnell zur Einsicht, dass es sich hierbei um ein gehobenes Wort für ein «first world problem» handeln muss.

Heute wünschen sich vermutlich viele Menschen, in einer Bar ein frisch gezapftes Bier vor sich stehen zu haben. Was würden wir nicht dafür geben, dass in diesem Moment die einzige Sorge wäre, dass sich das Glas zu schnell leert? Nicht nur diejenigen Menschen, die gewöhnlich in dieser einen englischen Bar einkehren. Die engagierten Barbetreiber bieten derzeit einen Lieferservice, lese ich online. Ich trinke ebenfalls zu Hause mein Bier – gerne auch virtuell mit Freunden. Den genussreichen Gefühlszustand vergangener Tage allerdings erreiche ich dabei nicht. Gewiss, die unbestritten grosse Kraft von Geselligkeit ist schon lange bekannt. Keine Kultur, keine Restaurants, kein gesellschaftliches Leben: So lautet die zermürbende Einsicht dieser Zeit.

Ich hätte im vergangenen April in geselliger Runde ins Präsidium des altehrwürdigen Vereins Gesellschaft zur Förderung der Biervielfalt gewählt werden sollen. Stattdessen wurde die GV erst verschoben, dann mitsamt allen Anlässen abgesagt. In diesem Jahr droht ein ähnliches Szenario, die erste Vorstandssitzung findet virtuell statt. Und so befinden wir uns alle im Winterschlaf und hoffen darauf, dass sich das Glas wieder füllen möge. Dazu gehört nicht nur Flüssigkeit, sondern mehr als eine Handvoll Menschen und ein anderes Ambiente als das der eigenen vier Wände.

Carole Gröflin

Präsidentin der Gesellschaft zur Förderung der Biervielfalt
Ausgabe: Salz & Pfeffer 1/2021 / Datum: 23.02.2021


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