Ausgefressen

Bergidylle und Biodiversität

Martin Hablesreiter

Spätsommerliche Sonne verführt uns hin und wieder dazu, längere Fussmärsche auf uns zu nehmen, um zu einem Wirtshaus zu gelangen. Das Gehen heisst dann Wandern, und den Gasthausbesuch nennen wir Einkehren. Je länger wir spazieren und je steiler die Wege ansteigen, desto mehr beschleicht uns das Gefühl, den Besuch in einer Gaststätte richtig verdient zu haben. Der erste Schluck Bier auf einer Alphütte gilt als ein Genussmoment erster Güte. Wohlig angespitzt (das ist ein Wiener Wörtchen für einfallende erste Rauschgefühle), mit Alkohol in der Hand und Speck und Käse auf dem Brett, betrachten wir Hüttengäste eine Landschaft, die wir als Österreicherinnen und Schweizer per Definition schön zu finden haben.

Schön sind die kahlen, menschenfeindlichen Riesenfelsen namens Berge. Schön sind die Märklinlandschaften mit einst bettelarmen Bergbauerndörfern. Schön sind die rapide schmelzenden Gletscher, und manchmal ist sogar die Alpwiese schön, durch die wir frohen Mutes zur Hütte gewandert sind.

Kürzlich erzählte mir ein sehr enger Freund, dass bewirtschaftete Alpen der beste Kohlendioxidspeicher Mitteleuropas seien. Der Mann heisst Franz Essl, ist Professor für Biologie an der Universität Wien und Biodiversitäts-Oberexperte. Er informierte mich darüber, dass nicht die Pflanzen das Klimaheizgas CO2 aus der Atmosphäre wegspeichern, sondern dass das der Boden darunter tut. Ein sehr tiefer Humusboden nimmt naturgemäss viel mehr Klimaemissionen auf als ein seichter. Bis zu zwei Meter nach unten reichende fruchtbare Schichten erfordern aber Biodiversität, also Millionen verschiedener Tier- und Pflanzenarten, die gemeinsam den Boden fruchtbar und gesund machen. Auf einer artenreichen und bewirtschafteten Alpwiese sorgen grasende und kackende Rinder zusammen mit allerhand Würmern, Insekten und Bakterien für den Aufbau allerbesten Bodens. Liegt die Wiese brach, verlatscht sie, und die einwachsenden Kieferarten verdrängen die Biodiversität und verringern die Speicherkapazitäten massiv.

Der feine, fette Käse auf der Alp ist, sofern er dort oben produziert wurde, also auch ein kleiner Beitrag zur nachhaltigen Transformation. Und wenn dann auch noch Spitzenköchinnen oder Spitzenköche wie der blutjunge Wahnsinnschef Julian Stieger im Arlberggebiet über die Alpwiesen und durch die Alpwälder hirschen, um ebendort die Grundprodukte für ihre fantastischen Kreationen zu sammeln, dann fühlt sich dieser Schluck Bier in den Bergen richtig gut an.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 4/2023 / Datum: 29.08.2023