Körperliche Lust – und Nähe
Im Laufe meiner Lebensjahrzehnte veränderte sich mein emotionaler Zugang zur Gastronomie ständig. Während der Kindheit im damals beinahe von der Welt abgeschnittenen österreichischen Freistadt gab es einmal im Monat ein sonntägliches Mittagessen ausser Haus. Es war immer ein kleines Fest, eine Gaststätte aufzusuchen und Grillteller, Hirtenspiess, Wiener Schnitzel oder ab Mitte der Achtzigerjahre Schweinelendchen mit Gorgonzolasauce zu bekommen. Wenn die Familie etwas zu feiern hatte, machten wir das im Wirtshaus. Waren wir im Urlaub, gingen wir jeden Tag gemeinsam essen. Naturgemäss bezahlte ausnahmslos mein Vater.
Das änderte sich schlagartig, als ich begann, die Gastronomie allein aufzusuchen. Das spärliche Taschengeld musste richtig investiert werden: Alkohol schien die beste Wahl. Wie die meisten männlichen, ländlichen Altersgenossen pflegte ich mich selbst schön zu saufen. Dabei war der Konsum von Speisen und Getränken gar nicht der Zweck des Gastronomiebesuchs. Die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht trieb mich aus dem Elterndirekt ins Wirtshaus. Entsprechende Betriebe heissen zwar Club, Bar oder Disco, das Grundprinzip aber ist überall gleich: Männer konsumieren sich Mut an, um jeden Abend aufs Neue überrascht festzustellen, dass der Rausch tendenziell abstossend ankommt. Die wirtschaftliche Idee dahinter funktioniert recht gut.
Die Gastronomie ist ein Ort der körperlichen Nähe. Sie ist eine Stätte körperlicher Lust. Nicht nur das Essen und das Trinken bereiten uns Gästen pures Vergnügen, sondern auch die Nähe zu anderen Menschen, das Gespräch, der Flirt und mitunter ein Ausflug ins Bett gleich nach Verlassen eines gastronomischen Etablissements. Das hat nichts mit Prostitution oder dem ekelhaften Sexismus zu tun, der auf so vielen alpinen Skihütten zelebriert wird, sondern mit dem Aufeinandertreffen verschiedener Stimuli. Essen, Trinken – Gastronomie ist einfach anregend.
Mittlerweile bin ich mehr als alt genug, um wieder essen zu gehen. Meine Partnerin Sonja und ich gehen ständig aus. Viele unserer Arbeiten und Ideen entstanden in der inspirierenden Umgebung gastronomischer Räumlichkeiten. Unzählige Gespräche führten wir zu zweit und mit anderen interessanten Menschen. Allzu viel Distanz störte mich dabei immer. Punktegastronomie, die selbst meine Frau so weit von mir entfernt, dass wir uns beim Essen kaum noch berühren können, mag ich überhaupt nicht.
Und jetzt das: Die Gastronomie darf zwar endlich wieder öffnen, aber die notdürftig überstandene Pandemie verlangt nach Distanzregeln. Ist das zum Aushalten? Selbstverständlich nicht! Meterweise Abstand wird verlangt. Das widerspricht den Grundprinzipien des gastronomischen Beisammenseins. Es bleibt uns nichts anderes übrig als impfen. Oberarm freimachen, stechen und ab zum Wirt. Dieser Stich zählt.