Ausgefressen

Schizophrenie und Symbiose

Martin Hablesreiter

Vor etlichen 1000 Jahren entdeckten wir Menschen die verschiedenen Techniken des Konservierens. An allen Ecken und Enden der Welt begannen wir mit dem Einsalzen, dem Trocknen, dem Räuchern und mit vielerlei Fermentationsprozessen. Wir lernten, Essen haltbarer, mitunter schmackhafter und in manchen Fällen sogar berauschend zu machen. Das war (und ist) recht praktisch, wohlschmeckend und zum Teil ziemlich lustig. Ab- gesehen davon ermöglichte die gute alte Fermentation einige kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen. Zum Beispiel gäbe es ohne Brot und Bier keine Pyramiden. Die beiden Produkte waren nämlich bevorzugtes Essen respektive Rauschmittel der Bauarbeiter – und ganz nebenbei die beliebtesten Opfergaben von Ägyptens Gottheiten. Später und woanders sollten Demeter und Dionysos bei jeder Gelegenheit auftauchen. Und bekanntlich liessen sich 13 befreundete Männer beim letzten Abendmahl Brot und Wein servieren.

Dass man Fermentation und Trunkenheit mit dem Göttlichen verband, ist kein Wunder. Schliesslich war nicht ganz geklärt, wer genau den Teig wachsen lässt und wer zur Hölle den Rausch in den Alkohol bringt. Jahrtausende lang liessen wir bei der Nahrungsgestaltung kleine Helfer für uns arbeiten, ohne zu wissen, dass sie existieren. Wir hatten schlicht keine Ahnung, dass es Bakterien gibt, geschweige denn, dass sie für uns kochen. Und dann treten endlich Wissenschaftler wie Louis Pasteur oder Robert Koch auf den Plan und entdecken die fleissigen Kleinen, sagen aber zugleich, dass diese todbringende Krankheiten verbreiten. Da haben wir den Salat. Wir wissen nicht, ob Bakterien nun Freunde oder Feinde sind. Kulinarische Schizophrenie! Doch das Schlimmste kommt noch: Die Dinger wohnen in uns. Drei Milliarden verschiedene Spezies oder zwei Kilogramm Bakterien tragen wir alle im Magen-Darm-Trakt mit uns herum. Jeder Mensch ist Wirt! Das muss erst einmal verdaut werden.

Wenn wir unsere winzigen Untermieter schlecht behandeln – sprich mies füttern –, zahlen sie uns das heim. Wenn sie wollen, können sie uns schlechte Laune oder allerhand Krankheiten verpassen. Und wenn zu viele von ihnen draufgehen, sterben wir gleich mit. So mag das eine oder andere Pestizid für den menschlichen Organismus zwar mehr oder weniger unbedenklich sein, aber nicht für Millionen Bakterien im Verdauungstrakt.

Das Leben ist eine Symbiose: Das sollten wir Menschen langsam, aber sicher lernen. Wir können die Natur nicht kontrollieren. Sie wird bestehen bleiben – mit oder ohne uns. Aber wir können in eine echte Kooperation treten, einander akzeptieren und ansprechend füttern. Beim Essen kommen wir bekanntlich zusammen. Essen hat etwas Friedliches. Seien wir also grosszügige, nachhaltige und intelligente Wirte!

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 3/2023 / Datum: 13.06.2023