Anschnitt

Postcoronale Sensorik

Thomas Vilgis

Corona sei vorbei, hört man. Gut so! Dennoch schwirrte ein Hauch der Omikron-Variante BA5 an meiner vierfach geimpften Nase vorbei und legte mich zackig flach. Es blieb beim mil- den Verlauf. Ist also alles gut? Mitnichten. Denn der Immunflüchtling besetzte mit Wucht die ACE2-Rezeptoren meiner Riechzellen und legte den Geruchssinn auf unbestimmte Zeit lahm. Na super. Speisen und Getränke schmeckten ungewohnt seltsam, und alles blieb vollkommen aromafrei. Zum Test die Nase tief ins Weinglas versenkt – gopf! Nichts als Wasser. Gute Nacht, Weinkeller.

Die Basisgeschmäcker – also süss, sauer, salzig, bitter und umami – pendelten sich bald wieder ein. Der Trigeminus funktionierte mit heiss, kalt, brennend und adstringierend ungebrochen auf voller Skala, und auch die Fadenpapillen detektierten Texturen in allen Finessen. Ich erkannte die Chance, meine Abschmeck- und Würzmethoden noch feiner auszutarieren, während der Geruch brachlag. Die Wahrnehmung ordnete sich neu, und nach und nach zeigte der Trigeminus, wo es langgeht. Knoblauch, Senf und Zwiebel stinken nicht, sorgen aber für starke Kälte im Mund. Menthol aus Minze und Eucalyptol aus Salbei, Majoran und Estragon kühlen Mund und Nase, Terpene aus Kampfer, Olivenkraut, Galgant temperieren wohlig Zunge und Gaumen, und Ingwer, Pfeffer und Chili steuern Wärme und Hitze bei. Bemerkenswert ist Zimt: Er kühlt und wärmt gleichzeitig. Wenn das mal keine Lektionen fürs Leben sind.

Irgendwann kämpften sich das Eugenol der Gewürznelke und die Aromaten von Geräuchertem in die Riechzellen zurück. Schwach zwar, aber Hoffnung keimte auf. Bald wird es Zeit, in den Weinkeller zu gehen, die alten Flaschen liebevoll zu streicheln und ihnen zuzuflüstern: Pech gehabt, ihr bleibt doch nicht verschont!

Thomas Vilgis

Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Ausgabe: Salz & Pfeffer 4/2022 / Datum: 29.08.2022