27.08.2024 Salz & Pfeffer 4/2024

Druck auf vier Schultern verteilt

Text: Andreas Bättig – Illustrationen: Simone Fecker – Foto: z. V. g.
Alles allein entscheiden zu müssen, kann anstrengend sein. Einige Gastro- und Hotelbetriebe setzen deshalb aufs Konzept der geteilten Führungsarbeit. Mit unterschiedlichem Erfolg.
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«Zu zweit können wir uns Bälle zuspielen.»

In der Küche des Restaurants Einstein in St. Gallen haben gleich zwei Chefs das Sagen: Sebastian Zier und Richard Schmidtkonz. Denn hier setzt man auf ein Führungsmodell, das beide Küchenchefs entlasten soll: das sogenannte Topsharing. «Die geteilte Verantwortung reduziert den Druck gerade im Gourmetbereich und steigert auch die Qualität», ist Zier überzeugt. «Zu zweit können wir uns die Bälle zuspielen. Das führt zu mehr Ideen und einer breiteren Perspektive.»

Zier und Schmidtkonz verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Schmidtkonz, der im Alter von 19 Jahren als Chef de Partie bei Zier auf Sylt begann, kennt dessen Küche und Philosophie seit mehr als einem Jahrzehnt. Diese Vertrautheit sei die Basis ihrer Zusammenarbeit. «Richard kennt unsere Küchen-DNA – und wir sind dicke Freunde», erläutert Zier. Und auch auf dem Teller funktioniere die geteilte Verantwortung sehr gut. «Während Sebastian eher der klassischen Küche zugeneigt ist, bringe ich moderne Einflüsse ein», sagt Schmidtkonz. 

Keine Ego-Show
Doch das Topsharing hat auch seine Tücken. Zier betont, dass das Modell nur funktionieren kann, wenn beide Partner bereit sind, ihr Ego zurückzustellen. «Man darf sich nicht zu wichtig nehmen», sagt auch Schmidtkonz. Ausserdem müsse es menschlich passen, sonst sei eine Doppelspitze unmöglich. Wesentlich sei auch, mit den Entscheidungen des anderen leben zu können. In der Küche, in der es auf schnelle und klare Anweisungen ankommt, müssten beide Chefs an einem Strang ziehen. «98 Prozent der Zeit sind wir mit den Entscheidungen des anderen einverstanden», sagt Zier. Bei den restlichen zwei Prozent ist Kompromissbereitschaft gefragt.

Superkräfte bündeln
Auf das Konzept Topsharing setzt auch Jonas Gass, seines Zeichens Direktor des Nomad Design & Lifestyle Hotel in Basel. «Der Fachkräftemangel in der Branche, verstärkt durch die Covid-19-Pandemie, machte es schwierig, Führungspositionen zu besetzen. Gleichzeitig wünschten sich viele Mitarbeitende mehr Flexibilität und eine bessere Work-Life-Balance», erklärt er. Das Topsharing-Modell sei für beide Bereiche eine gute Lösung gewesen. Ein Selbstläufer sei das Konzept der gemeinsamen Führung aber keineswegs. Deshalb habe man an einem Workshop zum Thema teilgenommen und die Co-Leitung extern professionell begleiten lassen. «Damit ein Topsharing funktioniert, müssen wesentliche Regeln eingehalten werden», sagt Gass. So sei es entscheidend, dass sich die Co-Leitenden regelmässig austauschten und die Aufgabenbereiche untereinander klar verteilten. Entscheidend für den Erfolg sei auch, welche Paare man für die Leitung zusammenbringe. «Die Personen müssen vom Charakter und vom Wesen her zusammenpassen. Sonst wird es für alle eine Qual», sagt Gass. Im Führungsstil könnten sie sich aber durchaus unterscheiden. Gass nennt das den «Avengers-Effekt» und bezieht sich damit auf die Comicserie mit den Superhelden, in der jeder eine andere besondere Kraft hat. «Als Team ergänzen sie sich perfekt. Genau das kann die Stärke einer geteilten Führung sein.»

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Nicht zu unterschätzen sei auch, dass eine geteilte Führung es den Mitarbeitenden ermögliche, behutsamer in eine Leitungsaufgabe hineinzuwachsen. «Wir hatten Mitarbeitende, die sich eine alleinige Führung bislang nicht zugetraut und zuerst eine Co-Funktion übernommen haben. Als einer aus der Doppelspitze ausgeschieden ist, waren sie für die alleinige Führung bereit», erzählt Gass. Derzeit sucht das Basler Hotel wieder verstärkt Co-Leader, zum Beispiel im Service und in der Küche. «Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir uns Co-Leitungen auch finanziell leisten können», sagt Gass. Für kleinere Betriebe könne dies eine finanzielle Herausforderung darstellen. «Hier gilt es, Kosten und Nutzen abzuwägen.»

Wer hat das letzte Wort?
Keine guten Erfahrungen mit dem Topsharing hat Lukas Meier, General Manager der beiden Zürcher 25hours Hotels Zürich West und Langstrasse, gemacht. «Die Idee klingt verlockend», sagt er. «In den meisten Fällen hat das Konzept bei uns aber höchstens ein Jahr funktioniert.» Die Gründe dafür seien vielfältig. Oft sei unklar gewesen, wer wofür verantwortlich ist. «Es wurde hin- und hergeschoben, wer wofür zuständig ist. Keiner hatte am Ende den Überblick. Die linke Hand wusste nicht, was die rechte tut», sagt Meier. Das habe vor allem bei den Mitarbeitenden für Verwirrung gesorgt. «Sie wussten mit der Zeit gar nicht mehr, an wen sie sich jetzt genau wenden sollten.» Zudem sei ein wesentliches Problem mit diesem Konzept nicht gelöst worden: «Wer trifft die letzte Entscheidung und hält dann auch den Kopf hin, wenn etwas schiefläuft?» Deshalb müsse man wieder zur Einzelspitze zurückkehren. «Je einfacher und klarer die Struktur ist, desto besser funktioniert die Führung», ist Meier überzeugt. 

Im Einstein in St. Gallen will man vorerst am Topsharing festhalten. «Ich bin überzeugt, dass sich dieses Konzept in der Spitzengastronomie vermehrt durchsetzen wird», sagt Sebastian Zier. «Die Work-Life-Balance profitiert davon enorm.» Statt 13 oder 14 Stunden am Tag zu arbeiten, können die Chefs ihre Zeit flexibler einteilen. «Das kam und kommt vor allem meinen Liebsten zugute.»

«Gerade bei unregelmässigen Arbeitszeiten kann ein Topsharing sinnvoll sein»

 

Eine ausgewiesene Expertin in Sachen Topsharing ist Julia Kuark. Sie ist als selbstständige Organisationsberaterin mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung, Integration und Coaching sowie als Dozentin an der Hochschule Luzern für Sozialkompetenz und Gender Management tätig. In ihren Beratungen baut Kuark Brücken zwischen Mensch und Technik, zwischen Männern und Frauen, zwischen Wissenschaft und Praxis. Die gebürtige Amerikanerin mit koreanischen Wurzeln, die als Doppelbürgerin der USA und der Schweiz in Lenzburg lebt, hat ursprünglich Maschinenbau an der Stanford University in Kalifornien studiert und ihre Dissertation am Institut für Arbeitspsychologie der ETH Zürich geschrieben. 

Sie beschäftigen sich seit 20 Jahren mit dem Thema Topsharing. Was genau ist damit gemeint?
Julia Kuark: Topsharing ist ein partnerschaftliches Führungsmodell, bei dem sich zwei Personen eine Leitungsposition teilen. Es ist ein teamorientiertes Konzept, das gut zu den heutigen Anforderungen an Flexibilität und agile Strukturen in Unternehmen passt.

Für welche Branchen ist das Modell besonders geeignet?
Topsharing ist nicht branchenspezifisch, sondern hängt vielmehr von den konkreten Aufgaben ab. Gerade in der Gastronomie und Hotellerie mit ihren oft unregelmässigen Arbeitszeiten kann es sehr sinnvoll sein. Es ermöglicht eine bessere Work-Life-Balance, da nicht jede Führungskraft ständig anwesend sein muss.

Im Gastgewerbe sind Führungspositionen oft stark an einzelne Persönlichkeiten gebunden. Wie kann Topsharing hier funktionieren?
Die grösste Hürde liegt oft im Kopf. Topsharing erfordert eine gewisse Offenheit und Loyalität gegenüber der Tandempartnerin respektive dem Tandempartner. Aber auch in der Gastronomie können zwei Persönlichkeiten gemeinsame Werte und Linien finden. Wichtig sind klare Absprachen über Zuständigkeiten und Entscheidungsprozesse.

Was sind die häufigsten Fallstricke bei der Umsetzung einer Co-Leitung?
Man kann nicht einfach eine Doppelspitze installieren und erwarten, dass alles andere gleich bleibt. Die Umstellung erfordert eine Investition, um Fragen zu klären und den Boden zu bereiten. Mittelfristig wirkt sich Topsharing jedoch positiv auf die Motivation der Menschen aus, baut eine konstruktive Führungskultur auf und beeinflusst so auch die gesamte Unternehmenskultur.

Welche Persönlichkeiten sind für das Konzept geeignet?
Topsharing ist ein teamorientiertes Modell, das soziale und kommunikative Kompetenzen erfordert. Personen mit einem sehr hohen individuellen Machtanspruch sind dafür weniger passend. Es braucht die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zur persönlichen Weiterentwicklung.

Wie sehen Sie die Zukunft von Topsharing?
Die jüngere Generation legt mehr Wert auf die Work-Life-Balance und flexible Arbeitsmodelle. Das kann eine Chance für die Branche sein, sich weiterzuentwickeln und für Fachkräfte attraktiv zu bleiben. 

Online finden Interessierte weitere Informationen und können die Broschüre zum Thema Topsharing bestellen: topsharing.ch