Ob der Michelin da nicht über einen Stern nachdenken sollte?
Mit der Verfeinerung ist es so eine Sache – vor allem dann, wenn man die Küche eines historischen Restaurants leitet. Im 1937 eröffneten Savoy in Helsinki, hoch oben im siebten Stockwerk eines Gebäudes am Esplanade-Park, speisten ja nicht nur Generationen von Finninnen und Finnen, wenn sie etwas zu feiern hatten, hier hielt auch der Marschall Hof. Nicht-Finnen sei erklärt: Baron Carl Gustaf Emil Mannerheim, Nationalheld des Zweiten Weltkriegs, Staatspräsident ab 1944. Seinen Stammtisch kann man buchen, fragt man rechtzeitig nach, seinen historischen Telefonapparat bewundern, den Vorschmack bestellen. Küchenchefin Helena Puolakka hat gar nicht erst versucht, etwas zu verändern am Klassiker, den die Kellnerin exakt so anrichtet, wie es der berühmteste Finne aller Zeiten vorgegeben hat. Oben die halbierten Kartoffeln, unten die beiden Nocken einer groben Masse aus Fleisch, gesalzenem Hering, Zwiebeln und weiteren Zutaten, links die Gurken, auf der anderen Seite die blutig-roten Randen. Hat Gründe. Der Feind, pflegte der Marschall zu sagen, komme von rechts.
Das ist in Finnland aktueller denn je. Die Beziehungen mit Russland, dem Nachbarn im Osten, sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Russischstämmige Köche, Kellnerinnen und Sommeliers hängen ihre Herkunft gerade lieber nicht an die grosse Glocke, das finnische Volk wiederum, das gern in einem der nicht wenigen georgischen Spezialitätenrestaurants einkehrt, hat die Traditionen der Teigtaschen längst so verinnerlicht, dass niemand mehr an ihre russische Herkunft denkt. Puolakka serviert ihre Pelmeni-Variante, leicht und frisch, mit Zander und Dill, als Vorschmack-Entree, dazu reicht Sommelier Aleksi Mehtonen gern Champagner aus der dicksten Weinkarte Finnlands.
Ob der Michelin da nicht über einen Stern nachdenken sollte? Doch die Küchenchefin weiss, wie der Hase läuft. «Bei uns sind auch schon mal 200 Leute gleichzeitig im Haus», sagt sie. Im Gastraum, in den diversen Private Dining Rooms, eine Etage tiefer, im soeben eröffneten Zweitlokal weiter unten. Mit Michelin-Testerinnen und -Testern kennt sich Puolakka aus wie keine zweite Finnin, weiss um deren Vorlieben und Abneigungen. Ist ja kein Geheimnis, dass Küchen, die für mehrere Outlets zuständig sind, die Inspektoren und Inspektorinnen der roten Bibel nervös machen. Die Küchenchefin freilich lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, schliesslich hat sie sowieso fast alles gesehen, was in der europäischen Kochszene zu sehen ist. Zu Gordon Ramsay ging sie einst nach London und erlebte mit, wie der Mann seinen Ruf als Choleriker begründete. In Pierre Koffmanns dreifach besternter La Tante Claire war sie Head Chef. Und bei Pierre Gagnaire in Paris wollte sie die für das Restaurant üblichen zwei Jahre bleiben. Als sie jedoch schon nach 18 Monaten um Auflösung des Vertrages bat, wies ihr der Meister die Tür. Seitdem herrsche, sagt Puolakka, Funkstille. Blödes Männergetue von gestern.
Altmodisch muss es früher auch im Palace zugegangen sein. Gleich ums Eck, was in Helsinki, wo alles gleich ums Eck liegt, nichts Besonderes ist. Man fährt ein Stück weiter nach oben, schaut ein Stück weiter in die Ferne – diesmal aufs Meer. Und hört, wenn man sich erkundigt, Geschichten von ganz früher. Ein legendärer Küchenchef habe hier mal, als er pensioniert wurde, alle Rezepte verbrannt; sein Nachfolger musste bei null anfangen.
Eero Vottonen, dem heutigen Patron, ist das nicht zuzutrauen. Auch im Palace gibt es, wie im Savoy, allerlei Frauen im aktuell 14-köpfigen Küchenteam (fünf bis sechs, sagt der Chef ); viele Mitarbeitende kommen an die Tische, um die Speisen zu vollenden und zu erklären. Mit Mannerheimschen Würz- und Anrichte-Traditionen hat man hier nichts am Hut, mit ultraregionaler Küche auch nicht. Produkte nur aus Finnland, nein, das nicht, sagt der Chef. Als einziger im Lande darf er sich mit zwei Sternen schmücken; sie prangen unübersehbar am hölzernen Raumteiler vor der Küche. Von dreien, wie sie in Kopenhagen, Stockholm und Oslo bereits leuchten, redet hier zwar noch keiner, aber alle sind sich einig, dass Potenzial da ist. Man muss es nur ausschöpfen.