«Es gibt meiner Ansicht nach keine Region der Schweiz, die kulinarisch so viel hergibt wie das Bündnerland.»
Seit Sie letzten Herbst zur «Entdeckung des Jahres» gekürt und mit Punkten, Sternen und Lob überhäuft wurden, bekommen Sie enorm viel Aufmerksamkeit. Hat Sie das verändert?
Sven Wassmer: Nein, gar nicht. Wobei – doch. Ich bin gelassener geworden. Man muss es geniessen, dabei aber authentisch bleiben. Ich gebe mich, wie ich bin, und stehe zu meiner Message. Die kann ich dank der Publizität heute auch nach aussen tragen.
Wie lautet sie denn, Ihre Botschaft?
Ein wichtiges Anliegen ist mir die Nachhaltigkeit, die sich in meiner Arbeit zeigt. Ich finde es toll, auf 1250 Metern in alpiner Höhe zu kochen: Vals ist mein Garten. Mein Team und ich gehen raus, sammeln, was die Natur hergibt, und verkochen es direkt oder machen es ein. Ich habe aber auch sonst viel gesehen und tolle Beziehungen über die Landesgrenzen hinaus – zum Beispiel nach Norwegen zu einem Herrn, der nach Jakobsmuscheln taucht. Mein Verhältnis zu Fisch und Meeresfrüchten wurde während meiner Zeit in London neu geprägt, da war die Küste plötzlich nah und Seafood bekam eine andere Dimension. Entscheidend ist die Saison: Wenn Jakobsmuscheln Saison haben, kaufe ich sie auch fürs «Silver» ein und kombiniere sie mit Produkten aus der Umgebung. Das ist Teil meiner Message: Nicht nur Früchte oder Gemüse kennen eine Saison, sondern eben auch Fisch oder Krustentiere. Dann bin ich davon überzeugt: Genuss kennt keine Grenzen.
Ein eingängiger Slogan.
Der Satz ist kurz, aber wahr. Wobei man die eigene Region nie vernachlässigen darf.
Aber von der Beschränkung auf regionale Zutaten halten Sie nicht viel?
Ich interpretiere sie anders. Ich koche mit dem, was im Wald wächst und wir sammeln: Tanne und Moos, allerlei Beeren, Pilze, Wildkräuter ... Da kaufe ich nichts ein und finde, es liegt an uns, die Sachen zu ernten, wenn sie reif sind, und zu verarbeiten oder haltbar zu machen. Ich plane im Jahresturnus, da bin ich superregional. Auch beim Fleisch und Fisch orientiere ich mich in der Umgebung. Zum Glück gibts in Vals einen, der schottische Hochlandrinder züchtet – das Fleisch ist regional und qualitativ hochwertig. Regional bedeutet ja nicht automatisch eine hohe Qualität, und für mich muss schon beides stimmen. Das tut es auch bei den Saiblingen, die ich aus dem Zervreilasee bekomme, oder bei den Produkten aus der alpinen Fischzucht in Cumbel. Es gibt meiner Ansicht nach keine Region der Schweiz, die kulinarisch so viel hergibt wie das Bündnerland mit seinen Einflüssen aus Italien und Österreich. Die spielen seit jeher eine Rolle hier. In Vals wurde früher Käse gegen Salami getauscht. Eben weil Genuss keine Grenzen kennt.
Ihre Art zu kochen, sei eigen, sagen Sie. Wie ist das zu verstehen?
Wenn ich meinen Kochstil beschreiben soll, sage ich immer: Sven Wassmer. Ich mag mich nicht festlegen oder in einen Rahmen pressen lassen. Ich will frei sein. Wobei es Eckpunkte gibt, die mir immer wichtig sind. Essen muss schmecken, sollte aber auch gesund und ausbalanciert sein. Obendrauf kommt die Kunst: Es soll toll aussehen. Alles spielt eine Rolle. Was liegt wie auf dem Teller? Und woher kommt es? Ich erzähle eine Geschichte – aus Erinnerungen von mir, um neue Erinnerungen zu schaffen.
Eine wichtige Inspirationsquelle ist Ihre Grossmutter.
Unbedingt. Ich wuchs damit auf, dass meine Oma und meine Mutter frisch kochten, im Garten ernteten, selber verarbeiteten und einmachten. Das war normal für mich, ich lernte damals viel. Umso schlimmer finde ich, dass heute in der Abschlussprüfung zum Koch Convenienceprodukte zugelassen sind. Wo bleibt der Berufsstolz? Wo das Handwerk? Es geht doch darum, dass ein Koch weiss, wie er etwas haltbar macht oder ein Tier zerlegt.
Wie wählen Sie Ihre Mitarbeiter aus?
Mit vielen arbeitete ich früher zusammen. Und sonst? Ich habe kein Schema. Entscheidend ist für mich die Freude; da muss ein Funke überspringen. Die Person soll etwas lernen wollen, motiviert sein. Gerade in meiner Küche, in der es jeden zweiten Morgen raus in den Wald geht, braucht es Menschen auf der gleichen Wellenlänge, die mit der Natur verbunden sind. Wir arbeiten auch nicht wirklich klassisch: Zwar hat jeder seinen Posten, aber es ist eher ein interaktives Konzept. Hat einer nichts zu tun, hilft er andernorts. Ein Turnus in meiner Küche dauert nicht lang; wer bei mir lernt, macht alle Stationen in zwei Jahren – dann erst versteht er mich und meine Arbeit richtig.
Wie kommen Sie zu diesem Führungsstil?
Er basiert auf meinen Erfahrungen. Ich machte mir sehr früh Gedanken, wie ich möchte, dass meine Küche eines Tages funktioniert.
Wie denn?
Harmonisch, ruhig, ohne Anschreien, mit Respekt. Dass man den Leuten mal Dampf machen muss, ist normal, aber nur wenn das Zwischenmenschliche passt, stimmen auch die Leistungen. Ich arbeitete in Küchen, in denen es schrecklich zuging, jenseits von Gut und Böse, da wurde beleidigt und wurden Teller in die Ecke zurückgeschmissen. Wenn ich mal lauter werde, dann nur, um die Leute zu wecken, nicht, um sie fertigzumachen.
Tragender Teil des Konzepts ist das gemeinsame Sammeln.
Die Zeit im Wald formt das Team und schweisst zusammen: Wir sind in der Natur, tauschen uns aus und erholen uns – während wir arbeiten. Zweimal pro Saison kommen auch die Servicemitarbeiter mit, damit sie wissen, welche Arbeit hinter den Gerichten steckt und woher die Zutaten stammen. Der Service ist ein wichtiger Bestandteil, er transportiert die Geschichte zum Gast. Ich habe eine wirklich tolle Brigade, und die brauche ich auf dem Niveau auch.