«Den Sprung von den Südalpen her nach Norden hat die spezielle Gewürzmischung nur zögerlich geschafft.»
Vom «Apothekerschleck» sprachen einst selbst die wohlhabenden Basler, wenn sie in den Apotheken für teures Geld exotischste Gewürzmischungen kauften, um ihre Speisen zu veredeln und den Alltag zu versüssen. Nelken, Muskat, Pfeffer, aber auch Koriandersamen, Sternanis und andere Preziosen vermischten die Pharmazeuten damals, oft auch mit Zucker, über den sie lange Zeit quasi das Monopol im Handel hatten. So lange zumindest, bis die Zuckerrübe den Anbau weltweit revolutionierte und die Preise fast ins Bodenlose fielen. Gehandelt wurden die exotischen Gewürze über die Alpen hinweg; die meisten stammten aus dem südostpazifischen Raum, wurden in erster Linie von den Venezianern und Genuesen in ihren Häfen angelandet und von dort weitertransportiert. Viele von ihnen beeinflussten die Gewürztraditionen des Alpenraums nachhaltig: Davon zeugen vom St. Galler Biber über das Basler Leckerli bis zu den mit Zimt veredelten Blutwürsten unzählige traditionelle Rezepte.
Früher noch als viele dieser Gewürze kam der Pfeffer nach Europa, schon die Römer handelten mit ihm und verbreiteten ihn in ihrem Reich. Teurer als die meisten Gewürze, fand er seinen Weg zwar in die Leb- und Pfefferkuchen, wurde aber selten zu Gewürzmischungen verarbeitet. Mit einer grossen Ausnahme: Im 17. Jahrhundert begannen die Hausfrauen in Grosio im Veltlin, ihre eigenen Mischungen zuzubereiten – mit dem Pfeffer, den sie von den Handelskarawanen erwarben, die ihre Waren von Venedig aus über das Stilfserjoch ins Südtirol, nach Österreich und darüber hinaus brachten.
Entstanden ist daraus die Pestèda, ein aussergewöhnlicher Mix aus Exotischem und Heimischem. So speziell, dass die Gewürzmischung bei aller Heimlichtuerei der Veltlinerinnen ihren Weg auch ins Puschlav und in andere Ecken Graubündens fand und dort in zahlreichen Varianten gepflegt wird. Nebst dem Pfeffer enthält die Gewürzmischung vor allem ein Kräutlein, das sowohl im Veltlin als auch in vielen Bündner Alpgebieten wächst, nämlich die Moschusschafgarbe. Genannt auch Liebfräuleinkraut, wegen des bezaubernden Dufts und der charakteristischen Aromen. Geschmäcker, die einst auch die Bündner für sich entdeckten, als höchstwahrscheinlich im 18. Jahrhundert die ersten Bündnerinnen und Apotheker damit begannen, das für ihre Region typische Kraut in Schnaps einzulegen und einen Likör daraus zu produzieren. Iva-Kraut nennt man die Moschusschafgarbe in Graubünden auch, und schon um 1900 verkauften viele Produzenten den Iva- Likör weit über die Schweiz hinaus. Die Zuckerbäcker sollen es gewesen sein, die das Rezept verfeinerten und so für den Aufstieg des lange sehr populären Getränks sorgten. Während andere Kräuterliköre im 20. Jahrhundert bekannter wurden, etwa der Wermut oder der Absinth, schwand das Interesse an den hochprozentigen Iva-Getränken. Erst in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten wurde das Kräutlein wiederentdeckt und im Rahmen der erstarkenden regionalen Kulinarik zusehends verwendet.
So eben auch für die Pestèda, der es nebst dem ebenfalls verwendeten Thymian ihren charakteristischen Geschmack verleiht. Den Sprung von den Südalpen her nach Norden hat die spezielle Gewürzmischung aber nur zögerlich geschafft. Zum Beispiel dank Domenica Boutilly, Gewürzspezialistin und Marktfahrerin, die zwischen dem Bündner Albulatal und Basel pendelt und damit auf einer Route, über die einst viele der exotischen Gewürze auch in die Deutschschweiz gelangten. Da die Moschusschafgarbe im Albulatal aber fast ausschliesslich in Naturschutzreservaten zu finden ist, hat Boutilly sie durch die gewöhnliche Schafgarbe ersetzt. Veltliner Traditionalistinnen würden darob wohl die Nase rümpfen, doch beweist die innovative Kräutermischerin damit ein gutes Gespür. Denn auch die Gemeine Schafgarbe duftet würzig und verfügt über die angenehmen Bitterstoffe der Moschusschafgarbe, die dem Pfeffergemisch zu einer spannenden Geschmacksbalance verhelfen. Innovativ zeigen sich aber auch die Puschlaverinnen und Puschlaver: Seit einiger Zeit gehört die Pestèda zu den traditionellen Buchweizen-Pizzoccheri, so ist sie heute doch auf fast jedem Tisch in der Gastronomie des Valposchiavo zu finden. Eine Vermählung von heimischer Tradition mit nachbarschaftlichen Einflüssen sozusagen. Mit einem Gewürz, das es weit bringen dürfte: Noch allerdings hat es etwa kein Käser und keine Käserin gewagt, Produkte mit diesem Gewürz zu affinieren. Dabei liegt in der vielfältigen Nutzung das Potenzial, die Pestèda einem breiteren Publikum schmackhaft – und damit auch bekannt zu machen.