Anschnitt

Wenn Alkohol nicht berauscht

Thomas Vilgis

Seit meinem ersten Dry January bin ich um einige Erkenntnisse reicher. Es begann mit einem an Botanicals fett bestückten alkoholfreien Gin. Das aromatisierte Wasser, von Nicole Klauss in der letzten Salz & Pfeffer-Ausgabe Hydrolat genannt, blieb sensorisch lebensarm. Aromafreisetzung, Mundgefühl, Benetzungsverhalten von Zunge und Gaumen, Fliessverhalten: Nichts passte. Der alkoholfreie Whisky war kaum besser.

Der Unterschied zum veritablen Eau de Vie liegt in den fehlenden Ethanolmolekülen mit ihrem Volumenanteil von 30 Prozent aufwärts. Nicht wegen der ausbleibenden Hirnvernebelung, nein, aber Ethanol fehlt als molekulare Ordnungskraft. Die meisten Aromen mögen Wasser nicht. Daher klumpen sie in den Hydrolaten zu winzigen Tröpfchen zusammen. Diese landen geballt im Mund und flüchten mit voller Wucht in den Nasen-Rachen-Raum, auf der Zunge verbleibt eine starke Adstringenz. Ethanol hingegen fängt die Aromen ein, sortiert sie in Spirituosen und lässt sie langsamer frei. Beim Ouzo lässt sich das Wechselspiel beobachten: Giesst man dem durchsichtigen Schnaps Wasser zu, wird dieser milchig. Der Alkohol wird dabei verdünnt, die Aromastoffe wissen nicht mehr, wohin, sammeln sich in grossen Tropfen, das Licht muss ausweichen – und im Glas wirds trüb. Alkohol reizt überdies den Hitzerezeptor des Trigeminusnervs, er wärmt. Bei Konzentrationen ab 35 Prozent beginnt er wie heisse Kartoffeln oder Chili im Mund zu brennen. Aber es hilft wenig, einem Zero-Whisky Chili beizufügen. Dessen ethanollösliches Capsaicin ist etwa sieben Mal schwerer als Ethanol. Folglich besetzt Capsaicin den Hitzerezeptor deutlich langsamer und an anderen Stellen als Ethanol, und schon brennt es «nichtalkoholisch».

Es ist eben, wie es ist: Auf molekularer Ebene bleiben Kompromisse unverzeihlich.

Thomas Vilgis

Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Ausgabe: Salz & Pfeffer 2/2022 / Datum: 05.04.2022