Ein Huhn für alle Fälle

Mit ihrer neuen Plattform Huhn + Hahn will Anna Pearson das Zweinutzungshuhn salonfähig machen. Sie erklärt, warum nicht nur Tier und Umwelt davon profitieren, sondern auch die Kulinarik.
Interview: Simone Knittel – Fotos: Catherine Pearson
Veröffentlicht: 27.08.2023
Anna Pearson propagiert mit ihrer neuen Plattform das Zweinutzungshuhn.

«Mit der Hühner-Industrie stimmt so einiges nicht.»

Mit Ihrem neuen Projekt Huhn + Hahn möchten Sie konkrete Probleme angehen. Welche sind das?
Anna Pearson:
Ich muss etwas ausholen: Hühnerfleisch, wie es heute in Schweizer Läden und Restaurants verbreitet ist, stammt vom Masthuhn, das nur für sein Fleisch, insbesondere für sein Brustfleisch, gezüchtet wird. Dieses Huhn ist auf maximale Effizienz getrimmt: In nur einem Monat erreicht es sein Schlachtgewicht. Es ist sozusagen ein Baby im Körper eines Sumoringers. Das extreme Wachstum sorgt für viel Tierleid: So kann das Huhn am Ende seines kurzen Lebens kaum mehr gehen. Zum Vergleich: Vor 70 Jahren dauerte das Leben eines Masthuhns viermal länger. Problematisch ist auch das energiereiche Futter, das diese Hochleistungstiere benötigen: Für den Anbau von Soja, Mais und Getreide werden weltweit Wälder abgeholzt und Ackerflächen beansprucht, die ohne den ineffizienten Umweg über das Huhn viel mehr Menschen ernähren könnten. Für die Menschen im globalen Süden ist das ein grosses Problem – unsere Hühner fressen ihnen buchstäblich das Essen vom Teller.

Es gibt ja aber nicht nur das Masthuhn.
Richtig. Sondern auch Legehennen für die Eierproduktion, die so gezüchtet sind, dass sie übermässig viele Eier produzieren, dafür aber kaum Fleisch ansetzen. Sie sind wahre Knochengerüste. Die männlichen Küken, also die Brüder der Legehennen, sind für die Industrie deshalb wertlos und landen in der Biogasanlage. Kurz gesagt: Mit der Hühner-Industrie stimmt so einiges nicht. Aktuell folgen wir bei der Produktion von Pouletfleisch und Eiern der Logik einer industrialisierten Landwirtschaft, zum Schaden von Umwelt, Tier und den Menschen im globalen Süden.

Und was ist nun Ihr Ansatz, um dem entgegenzuhalten?
Ich setze mich für Hühnerrassen ein, die nicht von der Industrie in die eine oder andere Extreme gezüchtet wurden: für sogenannte Zweinutzungshühner. Das sind Hühner, die wie früher sowohl Eier legen, als auch Fleisch ansetzen – beides jedoch in einem für das Tier verträglichen Mass. Aus diesem Grund kommen solche Hühner mit einfacherem Futter zurecht, etwa mit Nebenprodukten aus der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie, sie brauchen kein Sojaprotein. Dieser Punkt ist zentral: Tiere sollten mit ihrem Futterbedarf nicht die menschliche Ernährung konkurrenzieren. Zweinutzungshühner liefern gute Eier und schmackhaftes Fleisch, dessen Zubereitung allerdings etwas Arbeit und Know-how braucht.

Was bedeutet das?
Das Fleisch von Masthühnern ist geschmacklich fade und hat eine langweilige Konsistenz – aber es ist einfach zuzubereiten, weil es von Kopf bis Fuss zart ist. Zweinutzungshühner haben aromatisches Fleisch, das in den viel beanspruchten Schenkeln eine dichtere Struktur hat als das zarte Brustfleisch. Sie eignen sich also nicht für die exakt gleichen Zubereitungsarten, wie wir sie vom Poulet gewohnt sind. So verlangen die verschiedenen Stücke nach unterschiedlichen Zubereitungsmethoden und Garzeiten. Schauen wir nach Frankreich, wo Geflügel nicht als billiges Fleisch gilt, sondern als hochwertige Spezialität wertgeschätzt wird – denken wir etwa an die bekannten Bresse-Hühner, die deutlich älter geschlachtet werden als unsere «Industrie-Poulets»: In guten Restaurants kommt ein solches Huhn zerlegt und zur Perfektion zubereitet in zwei Gängen auf den Tisch. Zuerst wird die zarte Brust serviert, später folgen die Schenkel, die etwas mehr Zeit im Ofen benötigen. Da liegt der Knackpunkt: Hühner, die keine verfetteten Babys sind, kann man nicht wie gewohnt als Ganzes zubereiten. Die Brust, die Schenkel, das restliche Fleisch: Jedes Stück eignet sich für eine andere Delikatesse. Aber wie das geht, haben wir in der Schweiz vergessen. Die Schenkel vom Zweinutzungshuhn schmort man am besten: Gerichte wie Coq au vin, Tajine oder Curry eignen sich perfekt für das aromatische, dichte Fleisch. Ich möchte dieses Wissen neu aufbereitet wieder zugänglich machen.

Im Bioladen zum Beispiel gibt es Fleisch vom Bruderhahn. Inwiefern unterscheidet sich dieser vom Zweinutzungshahn?
Bruderhähne sind die Brüder moderner Legehennen, die genetisch bedingt kaum Fleisch ansetzen. Anstatt sie direkt nach dem Schlüpfen zu töten, werden sie im Bio-Bereich immer öfter aufgezogen und für ihr Fleisch geschlachtet. In Bezug auf die Umwelt und die soziale Gerechtigkeit macht dieser Ansatz wenig Sinn, da Bruderhähne trotz des geringen Fleisch-Ansatzes sehr viel fressen. Ich plädiere für einen ganzheitlichen Ansatz, der alle Aspekte berücksichtigt und nicht nur ein einziges Symptom bekämpft. Dafür müssen wir von den industriell gezüchteten Hochleistungshühnern wegkommen, unseren Konsum reduzieren und nochmals neu mit Geflügel kochen lernen. Wir Konsumenten und Konsumentinnen müssen uns der Natur anpassen – nicht umgekehrt!

Anna Pearson mit Martin und Judith Frei vom Biohof Rinderbrunnen
Der Biohof verkauft Eier und Hühnerfleisch aus nachhaltiger Produktion.

Wo möchten Sie mit der Plattform Huhn + Hahn ansetzen?
Die grösste Herausforderung liegt darin, die komplexe Thematik möglichst verständlich aufzubereiten. Ich muss ehrlich sein: Den durchschnittlichen Konsumentinnen und Konsumenten die Thematik zu erklären, ist nicht ganz einfach. Aber das Zweinutzungshuhn ist eine ganzheitliche Lösung für ein komplexes Problem – eine einfache Lösung gibt es nicht, sonst landen wir zum Beispiel beim erwähnten Bruderhahn. Ich möchte zudem dafür sensibilisieren, dass wir das Huhn und das Ei als Lebensmittel mehr schätzen und langfristig deutlich weniger konsumieren. Ich habe mich während meiner Recherche zu diesem Projekt intensiv mit dem Konsum auseinandergesetzt. Und herausgefunden: Wenn wir in jeder Hinsicht nachhaltig produzieren würden, könnten wir in der Schweiz noch 60 Eier und einmal Poulet pro Person und Jahr essen. Natürlich ist diese Einschränkung im Moment für die meisten unvorstellbar. Aber ich finde es spannend, diese Zahl im Hinterkopf zu behalten. Neben dieser Aufklärung liegt mein Fokus auf der Zubereitung des Fleischs. Ich stelle zeitgemässe Rezepte zur Verfügung, die speziell an die Fleischqualität des Zweinutzungshuhns angepasst sind. Im Bezugsquellenverzeichnis finden Interessierte schliesslich die Adressen von Produzenten und Produzentinnen, die Eier und Fleisch von Zweinutzungshühnern anbieten.

Und inwiefern ist das Zweinutzungshuhn fĂĽr die Gastronomie spannend?
Aktuell gilt Poulet als eher minderwertiges, billiges Fleisch. Doch das muss nicht sein. Das Zweinutzungshuhn liefert hochwertiges, schmackhaftes Fleisch bei zugegeben höheren Einkaufspreisen. Mit entsprechenden Bemühungen in der Küche und im Gespräch mit den Gästen kann es in der Gastronomie als edles Fleisch positioniert werden. Restaurants wie das Gamper in Zürich oder das Schäfli in Uznach machen es vor: Hier wird mit dem Fleisch von Zweinutzungshühnern gearbeitet und entstehen daraus ganz unglaubliche Gerichte – auch abseits der von mir empfohlenen Schmorgerichte. Es braucht sicher ein wenig Tüfteln und Ausprobieren, aber dann eignet sich das Fleisch für überraschende, neue Menüs – auch im Fine-Dining-Bereich.

Anna Pearson ist Köchin und Kochbuchautorin. Ihr aktuelles Projekt Huhn + Hahn hat sie nach einem erfolgreichen Crowdfunding soeben lanciert. Die Plattform (huhnundhahn.ch) bietet Tipps und Tricks zur Zubereitung von Fleisch von Zweinutzungshühnern, zeigt die Vorteile von deren Nutzung auf und bietet Einsicht in ein Verzeichnis von Produzenten und Produzentinnen. Aktuell arbeitet Pearson zudem an einem neuen Buch, das die ganzheitliche und ökologisch sinnvolle Verwertung von Fleisch thematisiert und entsprechende Rezepte liefert. Weitere Infos zu Pearsons Tätigkeit gibt es online. 
editiongut.ch



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