Alpenküche vom anderen Stern

Emmanuel Renaut versteht sich darauf, Pilze, Kräuter und Gemüse in intensive Finesse zu verwandeln. Der Meilleur Ouvrier de France zeigt in Megève fast beiläufig, wie nachhaltige Spitzenküche von morgen aussehen könnte.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Anne-Emmanuelle Thion
Veröffentlicht: 15.11.2017 | Aus: Salz & Pfeffer 8/2017

Wirklich unzufrieden könnten im Restaurant Flocons de Sel nur die Fleischesser alter Schule sein.

Eine irgendwie verwunschene Küche muss es sein. Manche Gäste, die der Service nach dem Bezahlen der Rechnung dorthin bittet, werden schnell wieder ausgespuckt, andere kommen einfach nicht wieder zum Vorschein. Ob missliebige Kunden in die Kühlkammer gesperrt werden, bis sie den Künsten des Chefs ausreichend gehuldigt haben? Wirklich unzufrieden könnten im Restaurant Flocons de Sel allerdings nur die Fleischesser alter Schule sein. Die Liebhaber von Markbein und Gänsestopfleber, all jene, die ohne grosse Portionen Wagyu nicht auskommen, die Dry-Aged-Adepten. Fleisch kommt im Menü des Emmanuel Renaut zwar vor, aber es spielt keine wesentliche Rolle. Steht es auf dem Tisch, nach vielen anderen Gängen und Stunden, ist auch der hungrigste Gast beinah satt, sehnt statt Muskel und Innerei eher Sorbet und Soufflé herbei. Und staunt, zieht er vorsichtige Bilanz, was bisher so alles gemacht wurde aus Getreide und Gemüse, Pilzen und ein bisschen Creme, Kaffee und Kräutern.

Was Renaut, der Drei-Sterne-Koch aus Megève, so alles tut, sammelt, einkauft und ansetzt, wissen allerdings längst nicht alle. Obwohl der Mann mit dem Kragen in Nationalfarben – den Titel des Meilleur Ouvrier de France trägt er mit Stolz – beim legendären Marc Veyrat gedient hat, pflegt er einen zurückhaltenden Stil. Selbstdarstellung mit Schlapphut ist Renaut fremd, die Runde durchs Restaurant scheut er, fürs TV zu posieren, Kräuter sammelnd, den Mond anbetend und über die Abgründe des Universums philosophierend, liegt ihm wenig. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ihm der Michelin vor ein paar Jahren die Höchstnote zugestanden hat.

Vielleicht ist dem grossen roten, immer noch ein bisschen konservativen Guide nicht nur die üppige Bordeauxsammlung (Yquem bis in die Vierzigerjahre), sondern auch jene Frage geschuldet, die einem die Kellnerin mit treuherzigem Augenaufschlag stellt. Sich ganz von den Konventionen zu lösen, ist auf diesem Level noch undenkbar, und wer das grosse Menü ordert, darf sich den nominellen Hauptgang aussuchen, als démi-portion à la carte. Die Kellnerin, die bestimmt Delphine oder Océane heisst oder zumindest Justine, lächelt mit französischstem Charme und zählt auf, was es gibt. Hirsch mit Blaubeeren, Milchlamm aus dem Aveyron, Milken. Da hilft kein Zögern. Später wird sie zurückkommen und fragen, ob der Gast vielleicht als lustiges Supplément noch den Kalbskopf kosten möge, eine hübsche tête de veau révisitée, mit winzigen Croûtons, vielen Blütenblättern und einer säuerlichen, schaumigen Sauce. (Dass Mademoiselle danach enttäuscht schaut, weil der mit lauter nur auf dem Papier halben Portionen gestopfte Kunde beim Vorfahren des Käsewagens verzweifelt abwinkt, hat sie sich selbst zuzuschreiben.) Die Käse stammen von hier, klar, aus der an erstklassigen Sorten reichen Region Savoyen, auch Brot wäre noch da. Es ist schon zu Beginn des Essens in üppiger Menge gebracht worden. Ein ganzer Laib, ein Trumm von Butter. (Welches Brot! Welche Butter!)

obLangoustine, Zitruszesten, Kaviar, Grapefruit, Enzian und Petersilienjus
Biskuit von Hecht und Seeteufel, Jus von der gegrillten Zwiebel, Melisse
Emmanuel Renaut

Apropos Anfang. Die Appetithappen der ersten Minuten lassen bereits keinen Zweifel daran, wohin die kulinarische Reise gehen wird. Savoyer Biskuit mit Gartenkräutern, die karamellisierten Champignonblätter mit ihrer erdigen Süsse, Beignets mit echtem (wildem) Sellerie und geräucherter Bergmilch. Polentahappen mit Heu und Safran sind ebenfalls dabei, die Gemüsetarte fällt ins Gewicht. Dann naht das Club-Sandwich mit Käse und Trüffeln, eine Spielerei, die einem ihrer Texturen wegen (das Brot ist getoastet, die Crème warm, die Trüffel geben neben Aroma auch Crunch) den Boden unter den Füssen wegzieht. Ein besseres Käsebrot ward nie serviert unter der Sonne. Und kann man, bald danach, mehr aus Pilzen herausholen als bei den dünn geschnittenen Champignons aus Savoyen, mit geräuchertem Eigelb und einem dezenten Kaffeeschaum akzentuiert? Unmöglich. Fleisch? Wozu Fleisch?

Und wozu Champagner (Moët & Chandon 2008, gut, keine Frage, aber irgendwie ganz weit weg), wenn es auch Pétillant aus Savoyen gibt? Der Sommelier seufzt fast vor Glück, bittet man ihn nun um ausschliesslich Regionales im Glas. Er erläutert die Winzer der Gegend, die keiner kennt, und die Rebsorten, von denen schon drunten am Genfersee niemand je gehört hat. Ihre Würze ist wie gemacht, um Toast und Gemüse zu begleiten, den Pilzen standzuhalten. Sogar zu den Langoustines passt der trockene Savoyer, ob wohl selbst ein Eingeweihter wie Emmanuel Renaut keinen verschwiegenen Bergsee kennen dürfte, in dem Kaisergranate heranwachsen. Aber hat jemand behauptet, dass regionale Küche stur sein müsse? Was spricht dagegen, nicht die extreme Tour zu fahren, Noma zu spielen und Fäviken nachzuahmen, sondern praktisch zu sein und klug.

Rohe, nicht zu fein gehackte Krustentiere kombiniert man im Flocons de Sel mit Kaviar und Zitrusgel, doch die i-Tüpfelchen-Würze wird erst durch Enzianwurzel erreicht. So wie später Melisse Spannung in den genialen Hecht-Seeteufel-Biskuit bringt. Der mit Salz confierte Féra kommt da nicht ganz mit, aber drei Sterne gebühren wieder dem Kalbsbries (wenn die halbe Portion so üppig aussieht, wie mag sich die ganze präsentieren?) mit Angostura und Pommes soufflées, den handwerklich anspruchsvollen Rückgriffen auf ehrwürdige Küche. Man nimmt sie gern, auch wenn sie zur Erreichung des absoluten Glückszustandes nicht notwendig wären. Auf die Desserts zu verzichten, wie es in ultraavantgardistischen Restaurants neuerdings praktiziert wird, ist dagegen undenkbar. Blaubeere in Texturen: ein erstes Wunder. Crème mit Lakritz und einer dünnen Kruste samt geröstetem Chicorée, Salat aus Zitrusfrüchte-Filets, Kräutern und Gemüse: ein zweites.

Die verschwundenen Gäste finden sich wieder, am Küchentisch, bei einem Digestif. Gut möglich, dass Ihnen Renaut bei dieser Gelegenheit, wie uns, von der Vielfalt der Berge erzählt, von Lieferanten spricht, sein Bistrot nennt oder Kräuter erklärt. Dass er bloss ein paar Brocken Deutsch versteht, obwohl seine Frau Kristine aus dem Norden stammt, sagt er auch. Doch verzauberte Küchen wie seine bedürfen bekanntlich keiner irgendwie gearteten Übersetzung, sondern nur neugieriger Aufgeschlossenheit.

Für ein Menü in Megèves Spitzenrestaurant Flocons de Sel rechne man mittags ab 120 Euro, die neungängige Speisenfolge zu 230 Euro ist immer abends die richtige Wahl. Das Restaurant hat Dienstag und Mittwoch geschlossen und ansonsten mittags und abends geöffnet. Weil viele Plätze zur Verfügung stehen, gibts mittags häufig auch ohne Wartezeiten einen Tisch. Luxuriös übernachten kann man vor Ort, das Bistrot im Zentrum vom Megève bietet die schnellere Alternative zur grossen Bergküche.

Restaurant Flocons de Sel
1775, route du Leutaz, F-74120 Megève
+33 (0)4 50 21 49 99
www.floconsdesel.com



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