Mit Adrenalin kochen
Trotz akutem Fachkräftemangel erfreut sich der Kochwettbewerb Swiss SVG-Trophy in der Branche grosser Beliebtheit. Auch dieses Jahr kämpfen wieder sechs Teams um die begehrte Trophäe.
«Warum man einen solchen Gang nicht mit zwei Sternen prämiert, weiss keiner.»
Selbst schuld, wenn man den Hals nicht vollbekommt oder den Guide Michelin Singapore kauft. Ob die Gäste neben mir Zweiteres getan haben, weiss ich nicht, aber dass sie die Portionen im Burnt Ends unterschätzen, wird nach wenigen Minuten klar. Setzt der beleibte Herr nach dem dritten Gang noch ein zufriedenes Lächeln auf, den Gürtel gelockert, kommt er beim vierten bereits ins Schwitzen; auch seine Partnerin ist nun der finalen Sättigung nah.
Gut möglich, dass sich das Pärchen im Charakter des Lokals getäuscht hat, denn Fine Dining muss ja nicht bedeuten, dass es etepetete zuginge. Keine Happen zum Hungrigwerden, sondern ordentliche Batzen. Auch was die Verfeinerung der Produkte angeht, lässt Chef David Pynt die Kirche im Dorf. Erste Kocherfahrungen sammelte der Australier in Perth, das ja als abgelegener Geheimtipp unter den Essmetropolen des fünften Kontinents gilt. Stages im Noma, im Londoner St. John (Nose to tail!) und im baskischen Asador Etxebarri folgten. Grillgerichte auf grossartige Weise: Pynt war angefixt. In London versuchte er es mit einem BBQ-Pop-up, und 2013 übernahm er in einem überschaubar grossen Lokal in einem jener typischen Altstadtviertel Singapurs die Rolle des Patrons. Zweigeschossige Häuschen, Bars und Imbisse, ein Mischmasch aus Tempeln, Kirchen und Moscheen in Laufweite, der nächste Food Court nur einen Katzensprung entfernt. Vor dem Eingang zum Burnt Ends stehen immer ein paar, die nicht reserviert haben (drei Monate im Voraus schaden nicht) und dennoch hungrig sind. Sie haben vom Konzept gelesen und wissen vielleicht sogar, dass der Laden auf der 50-Best-of-Asia-Liste auf Platz zwölf rangiert, nur ein paar Stellen hinter dem ebenfalls im Stadtstaat beheimateten Odette.
Dessen Chef allerdings ist Franzose und wurde vielleicht auch deshalb mit zwei Sternen im Guide Michelin bedacht, während David Pynt in der soeben erschienenen Ausgabe nur eines einzigen Sterns für würdig befunden wurde. Eine absurde Entscheidung, die zeigt, wie sehr der berühmteste aller Restaurantführer zumindest in Asien den Trends hinterherhinkt oder, noch schlimmer, alles gründlich missverstanden hat. Oder wie soll man es nennen, wenn der Michelin einem sympathischen Schnellimbiss wie Hawker Chan einen Stern verleiht? Für ein – tatsächlich knuspriges – Huhn mit trockenen Nudeln und Sojasauce, wie man es in ähnlicher Qualität an Hunderten von Ständen und Beizen im essverliebten Singapur finden kann? Dessen malaysischer Chef, ein herzlicher kleiner Kerl, der kein Wort Englisch spricht, mutierte auf diese Weise über Nacht zum Star; die Schlangen für seine vier, fünf Franken kostenden Speisen wurden länger und länger.
Bei Chef Pynt geht es mit Recht teurer zu. Und rauchiger, denn nicht nur die Silhouette des riesigen Holzofens mit zwei Temperaturzonen prägt den Raum, dessen Duft legt sich auf angenehme, appetitanregende Weise über die Insassen des Burnt Ends. Sie sitzen gequetscht an der Theke, müssen aufpassen, dem Nachbarn nicht die Ellenbogen in die Rippen zu stossen, und schauen den Köchen auf der anderen Seite zu, wie diese Fleisch vom Knochen lösen und Mandelholz nachlegen. Klar könnten sie alle auch daheim grillieren, aber das Ursprüngliche scheint zu reizen. Und ja, es gibt Schlimmeres, als an einem jener typischen feuchtwarmen Tage Singapurs im klimatisierten Inneren zu sitzen und sich geräuchte Auberginen mit Miso oder gegrillte Hühnernacken mit weissem Pfeffer vorsetzen zu lassen. Von den saftigen Auftakt-Fleischhappen bekomme ich gleich zweimal aufgetischt, was Versehen oder Aufmerksamkeit sein könnte. Die Gäste nebenan, die Menü- und Vielesser, sind derweil schon weiter, lassen nicht nur Quantität walten, sondern auch Qualität. Die Produktauswahl des Burnt Ends, in dem auch schon Starköche wie Andreas Caminada vorbeigeschaut haben, ist anspruchsvoll. Fürs Flat-Iron-Steak mit Knochenmark und gegrillten Zwiebeln zahlt man nicht viel, für die ZweiPersonen-XXLPortion eines 45 Tage trockengereiften Mayura Beef sind stolze 490 Singapur-Dollar fällig.
Gar so weit geht das Pärchen nebenan nicht. Aber beim Hauptgang, vor Käse und Dessert, werden die Schweissperlen grösser. Gegen die hilft Wein, klar. Der Sommelier naht von der Küchenseite der Theke – auf der anderen wäre nicht genug Platz zum gepflegten Einschenken – und brüllt Empfehlungen herüber. Das Lautstärkelevel erinnert ans Oktoberfest. Aber vielleicht ist ja genau das gewollt. Irgend wann gerät man nämlich unweigerlich in einen angenehmen Trance-Zustand, der in einem normalen Restaurant – leise Klaviermusik, Zweiertische – unmöglich erreicht werden könnte.
Alkohol tut das Übrige. Grosse australische Rote, sorgfältig dekantiert und tendenziell etwas teurer als in der Schweiz, feine Sake der Junmai-Daiginjo-Kategorie (tendenziell etwas billiger), witzige Cocktails wie der All-Australian-Negroni und sogar deutsches Bier. Könnte allenfalls zur Burrata mit gegrilltem Fenchel und Orangen passen. Frisch, balanciert, dezente Rauchtöne. Ein feiner, milder Zwischengang. Ein Hoch auf den Souschef mit Baseball-Cap, der meinen Hauptgang vorbereitet und, im Trubel nie den Überblick verlierend, zwischen zwei Bons immer mal wieder Textnachrichten von seinem Mobile abruft.
Während die Gourmands nebenan vor den letzten Stücken des Rindfleischs kapitulieren und den Ärger über begrenzte Magenkapazität mit Wein hinunterspülen, naht meine Taube. Eine ganze natürlich, keine dekorative Brusthälfte, wie heutzutage üblich in der Gastronomie. Die knusprigen Schenkel zum Abnagen ragen dekorativ in die Höhe, das Fleisch ist rosa und knusprig, die Jus toll, der Salat fein. Erwähnte ich das ausgezeichnete Sauerteigbrot? Warum man einen solchen Gang nicht mit zwei Sternen prämiert, weiss keiner. Ob Michael Ellis, der internationale Michelin-Chef, wegen solcher Eskapaden den Verlag verlassen hat?
David Pynt scheint weit über solchen Fragen zu stehen. Liegt vielleicht daran, dass man in Australien noch ohne Michelin-Sterne essen geht und Marotten nie künstlich pflegt. Der halbgeschmolzene Käse mit geröstetem Brot, der im Burnt Ends den Käsewagen ersetzt, wäre auch in der Schweiz nicht köstlicher zu haben. Und die Eiscreme mit dezentem Rauchgeschmack schmiegt sich, ganz zum Schluss, auf feine Weise an die Schokoschnitte an. Schnell mache ich den Platz frei. Die nächsten Gäste warten schon im Regenwaldklima vor der Tür, um authentisches Essen zu erleben, cool angerichtet, tiefgründig im Geschmack. Und sollte an schliessend jemand wider Erwarten noch Lust verspüren auf grossartige Nudelsuppe: Singapurs Food Courts haben häufig die ganze Nacht geöffnet. Für die vielen Einheimischen, die daheim auf eine eigene Küche verzichten, oder für die Besucher im asiatischen Essparadies.
Im Burnt Ends zahlt man für Hauptgänge zwischen 50 und 345 Singapur-Dollar, umgerechnet also 36 bis 250 Schweizer Franken.
Burnt Ends
20 Teck Lim Road
Singapur 088391
+65 6224 3933
www.burntends.com.sg
Heuschrecke zum Trinken
Wer das Burnt Ends mag, wird das Native lieben. Die internationalen Spirituosenvermarkter dagegen machen einen Bogen um den Laden in einem Obergeschoss in der dicht bevölkerten Amoy Street. Gründer Vijay Mudaliar und sein Team mixen ausschliesslich mit asiatischen Bränden und Likören. Ebenso authentisch sind die Cocktails. Der Grasshopper besteht aus Zitronengras, geeister Kokosmilch, weissem Rum und einem Pulver von getrockneten Insekten.
Native
52A Amoy Street
Singapur 069878
+65 8869 6520
www.tribenative.com