Tief verwurzelt

Vor fünf Jahren kehrte Mario Inderschmitten zurück ins Binntal, eine Sackgasse in den Walliser Bergen. Hier wachsen seine Kinder auf, und hier kocht er – richtig gut.
Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 05.02.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2018
Rindsrücken «Black Forrest», Sauerkirschen, Kakao und Kirschwasser

«Es gibt Lieferanten, die fahren gar nicht bis zu uns.»

Was für ein Typ sind Sie?
Mario Inderschmitten: Ich bin eher ruhig, das schon, aber auch ehrgeizig. Ich probiere immer, das Beste rauszuholen.

Sie haben die Lehren als Koch und Konditor-Confiseur jeweils als Kantonsbester abgeschlossen. Sind Sie ein Streber?
Das würde ich nicht sagen. Ich habe es einfach gerne gemacht und versucht, möglichst gut zu sein. Das war nicht immer so. Ich bin im Gastgewerbe, in diesem Restaurant aufgewachsen. Und ich wusste nicht so genau, was ich einmal werden will. Der Schreinerberuf hat mich auch interessiert. Die Kochlehre habe ich einfach mal so begonnen, ohne grosse Ambitionen. Erst während der Ausbildung hat es mich gepackt.

Wie war es, in einem Restaurant aufzuwachsen?
Es war schön. Ich kannte nichts anderes. Es gab Zeiten, in denen man die Eltern öfter sah, und Zeiten, da war es weniger. So haben es meine Kinder jetzt auch. Im Winter schliessen wir für fast sechs Wochen, dafür ist im Sommer viel los.

Das Binntal ist ein sehr abgelegener Ort. Wieso kehrten Sie und Ihre Frau hierher zurück?
Einige Leute haben diesen Schritt nicht verstanden. Wir hätten auch andere Möglichkeiten gehabt. Aber hier in Binn sind meine Wurzeln und das Restaurant. Hier bin ich zu Hause. Meine Eltern führten den Betrieb während fast 30 Jahren.

Junge Familien sind in dieser Gegend sicher hochwillkommen.
Das Dorfsterben ist ein allgemeines Problem in den Bergen. Von den Schulkameraden, mit denen ich aufgewachsen bin, ist heute niemand mehr hier. Ich sagte mir immer, wenn wir einmal Kinder haben, ist dieser Ort ideal für sie, um aufzuwachsen. Zwar weiss ich nicht, ob es in Binn noch eine Dorfschule geben wird, wenn unsere Kinder einmal schulpflichtig werden, aber die Gegend ist wunderschön. Man ist in der Natur. Und auch hier kann man gut kochen. Es ist zwar nicht immer ganz einfach, aber es geht.

Was ist schwierig?
Es gibt Lieferanten, die fahren gar nicht bis zu uns. Und dann ist das Einzugsgebiet natürlich nicht mit einer Stadt vergleichbar: Wir haben weniger potenzielle Gäste. Es gibt Zeiten, die sehr ruhig sind. Im Sommer haben in Binn fünf Restaurants geöffnet, im Winter nur zwei, ausser im November, dann haben alle zu. Es ist auch sehr schwierig, Personal zu finden, das bereit ist, hier oben zu arbeiten. Ich verstehe das. Hier ist nicht so viel los wie etwa in Zermatt, und das letzte Postauto fährt um 18.20 Uhr. Zum Glück hilft meine Frau wieder im Service mit.

Und wo sind in dieser Zeit Ihre Kinder?
Wir haben sie einfach bei uns, oft im hinteren Bereich der Küche. Dort hat es ein wenig Platz. Familie und Arbeit geschehen momentan hier im Restaurant, zusammen und gleichzeitig.

Was hat Ihnen die Zeit in der Nationalmannschaft gebracht?
Ich habe extrem viel trainiert und so auch sehr viel gelernt. Zum Beispiel die sehr feinen Friandise-Geschichten, die hätte ich sonst sicher nicht gemacht. Man lernte, die Dinge bis ins Detail auszuarbeiten. Und dann habe ich viel gesehen, kam in der Welt herum. Aber in diesen insgesamt sechs Jahren blieb neben der Arbeit, den Trainings und den Wettkämpfen nicht viel Zeit für anderes übrig.

Was genau gefällt Ihnen am Kochberuf?
Sicher das Kreative, das Entwickeln von neuen Gerichten. Das Arbeiten mit Lebensmitteln und natürlich die Tatsache, dass man seinen Gästen eine Freude bereiten kann.

Wie würden Sie Ihre Küche beschreiben?
Das ist für mich eher schwierig. Ich lege Wert darauf, allen Gästen etwas zu bieten. Ein Tourist findet bei uns eine einfache Käseschnitte oder ein Fondue. Daneben haben wir aber auch ein Gourmetmenü. Denn die Leute aus dem Tal kommen nicht unbedingt wegen einer Käseschnitte zu uns, da braucht es schon etwas Spezielles. Ich versuche, einen guten Mix anzubieten, das hat sich bis jetzt nicht schlecht bewährt.

Süsses Binner Gestein, Tannenspitzen, Orange und Absinth
Rillettes von geräuchter Forelle, Apfel und Lardo di Colonnato

«Es ist eine Herausforderung, an so einem Ort ein Restaurant zu betreiben.»

Allerdings, letztes Jahr sind Sie mit 14 Gault-Millau-Punkten eingestiegen, heuer sind es bereits 15 Punkte.
Am Anfang hatte ich ein bisschen Angst, dass eine Erwähnung im Führer Gäste aus der Region abschrecken könnte. Und die ersten zwei Jahre wurden wir auch nicht bewertet. Danach empfahl mich ein Lieferant bei Gault & Millau. Das war ideal. Als die Punkte dann kamen, war das kein Problem, weil die Einheimischen bereits wussten, wie ich hier koche.

Sie haben ein grosses Haus, zwei kleine Kinder und stemmen in der Küche fast alleine eine Gourmet- sowie eine Hotelküche: Dabei scheinen Sie extrem ruhig.
Ich zeige es vielleicht nicht so, aber es ist für mich schon auch stressig und sicher nicht immer ein Zuckerschlecken. Doch die Kinder werden ja auch grösser. Mit der Älteren geht es schon relativ gut, die spielt dann einfach in der Küche. Der Kleine braucht halt momentan noch etwas mehr Zuwendung.

Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Die Gäste zu begeistern, natürlich. Es ist eine Herausforderung, an so einem Ort ein Restaurant zu betreiben. Aber es bringt auch eine gewisse Freiheit mit sich. Wir können das Restaurant zum Beispiel relativ lange schliessen. So viel Ferien hätte ich als angestellter Koch nicht. Unser Ziel ist es, hier zu bleiben.

Welche Menschen kommen ins Binntal?
Das ist ganz unterschiedlich. Im Winter haben wir viele Skitouren-Gruppen. Im Sommer kommen viele, um zu wandern oder um Kristalle zu suchen. Das Tal gehört zu den Schweizer Naturpärken und ist zudem ein alter Schmugglerweg. Wer unbefleckte Natur, Ruhe oder gutes Essen sucht, ist hier richtig.

Wie regional kochen Sie?
Ich versuche, den Fokus schon auf Produkte von hier zu setzen, hänge es aber nicht an die grosse Glocke. Ich arbeite zum Beispiel grösstenteils mit Süsswasserfischen. Etwa mit Egli aus der Zucht in Raron. Das Lamm beziehe ich von einem lokalen Bauern, der Schwarznasenschafe züchtet. Und im Herbst kaufe ich jeweils zwei bis drei Hirsche, ein bis zwei Rehböcke sowie einmal im Jahr ein Natura-Beef-Kalb aus Mutterkuhhaltung von einem Bauern aus Binn, die wir dann verarbeiten. Mein Vater ist gelernter Metzger, er hilft mir jeweils beim Auseinandernehmen. Irgendwann stösst man aber bezüglich ganzen Tieren an eine Grenze.

Weshalb?
Es ist einfach sehr viel Fleisch, und die Gäste wünschen sich halt doch meistens ein Edelstück. Ich versuche im Tastingmenü neben Filetstücken jeweils auch etwas Geschmortes einzubauen. Auch Hirschwürste haben wir schon produziert. Und in der Halbpension biete ich ein relativ einfaches Drei-Gang-Menü an, in dem ich auch die Schmorstücke verwerte.

Wer ist stärker in Ihnen, der Koch oder der Patissier?
Bevor ich hierherkam, war das wohl der Patissier. Denn früher arbeitete ich häufiger in der Patisserie und der kalte Küche, heute, im Albrun mache ich alles. Bei mir haben die Gerichte aber oft eine süsse Komponente – beim Forellen-Gang sind es etwa die Äpfel.

Und Ihr Hauptgang «Black Forrest» tönt wie ein Dessert.
Das Gericht ist eine Interpretation der Schwarzwäldertorte. Ich habe es vor einigen Jahren für einen Event konzipiert. Es ist ein bisschen gewagt, kommt bei den Gästen aber sehr gut an und funktioniert auch prima mit Rehrücken. Wir haben mittlerweile Gäste, die extra wegen dieses Gerichts hierherkommen. Man könnte meinen, dass der Gang süss ist, aber die Kirschen bringen genügend Säure rein, damit es aufgeht.

Wie gehen Sie als Selbstständiger mit dem finanziellen Druck um?
Ab und an macht man sich schon Gedanken, wenn ein Monat einmal knapp ist. Das Schöne hier oben ist, dass man sicher sein kann, dass es im Sommer gut läuft. Und es essen auch viele Leute aus dem Dorf bei uns. Obwohl in Binn nur 140 Leute wohnen, gibt es relativ viele Vereine. Die meisten Einwohner sind Mitglied in mehreren Vereinen. Das hilft der Gastronomie enorm.

Haben Sie Hobbys?
Die Familie, das ist eigentlich kein Hobby. Aber wenn wir nicht arbeiten, sind wir mit den Kindern.

Was würden Sie nie kochen?
Extreme Sachen, die den Gästen keine Freude bereiten würden. Hund zum Beispiel, oder den Walliser Wolf. Das wäre zudem noch illegal.

Wohin wollen Sie Ihre Küche entwickeln?
16 Punkte sind sicher kein Ziel. Ich werde weiterhin Dinge ausprobieren, aber ich verfolge jetzt nicht eine klare Strategie. Ich koche einfach weiter, so wie es für mich stimmt und wie ich es für richtig halte.

Mario Inderschmitten (32) wuchs im 140-Seelen-Dorf Binn im Kanton Wallis, wenige Kilometer von der italienischen Grenze auf. Seine Eltern führten die Pension Albrun, eines von insgesamt fünf Restaurants im Ort. Nach einer Kochlehre bei Norbert Schwery im Restaurant Schlosskeller in Brig absolvierte der Heavy-Metall-Fan eine Zusatzlehre als Konditor-Confiseur im Spitalzentrum Oberwallis. Zwischen 2006 und 2013 war er Mitglied der Kochkunstequipe Rhoneköche, von 2009 bis 2012 Mitglied und Patissier der Schweizer Kochnationalmannschaft. 2012 gewann Inderschmitten die erste Ausgabe des Kochwettbewerbs Marmite Youngster. Nach einem kurzen Abstecher ins Ristorante Seven in Ascona übernahm Inderschmitten 2013 zusammen mit seiner Frau Laetitia das elterliche Restaurant in Binn. Vor zwei Jahren bewertete Gault & Millau Inderschmittens Küche mit 14 Punkten, letztes Jahr kamen ein weiterer Punkt sowie ein Bib Gourmand von Michelin hinzu.

Restaurant Pension Albrun Binn
Binna 4, 3996 Binn
027 971 45 82
www.albrun.ch



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