Von weit weg zu nah dran

Nachdem ihn die grosse Welt ein paar wichtige und mitunter harte Lektionen lehrte, konzentriert sich Stefan Beer im Berner Oberland ganz auf die Umgebung. Es gibt viel zu entdecken.
Interview: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 14.02.2023 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2023

«Ich lernte: Die Wand ist härter als der Grind.»

Sie haben Ihre Lehr- und Wanderjahre ausgiebig zelebriert. Warum war das für Sie wichtig und richtig?
Stefan Beer: Jede meiner Stationen, insbesondere die ersten hier in der Schweiz, wählte ich, um etwas Bestimmtes dazuzulernen. In der Kulturquelle Brunnen in Bätterkinden zum Beispiel wollte ich unbedingt bei Res Hubler in die Patisserie, weil das nach der Lehre mein schwächster Posten war, im Restaurant Attisholz in Riedholz machte mich Jörg Slaschek als Gardemanger fit, und zu Rolf Fuchs ins Panorama in Steffisburg ging ich, weil wir uns aus der Wettkampfszene kannten und gut verstanden. Im Art Deco Hotel Montana in Luzern wiederum sammelte ich im Hin­blick auf meine Meisterprüfung Erfahrungen in der Admini­stration sowie im Bereich der Personalführung – und entdeckte plötzlich, dass mir diese ja eigentlich ganz gut liegt. Dabei war ich nicht unbedingt von Anfang an der grösste Teamplayer ge­wesen, sondern eher ein Einzelkämpfer. Aber mit zunehmender Reife kam das. Im Hotel Montana lernte ich, die Leute auf eine Reise mitzunehmen.

Apropos: Sie verliessen die Schweiz und gingen nach Schanghai.
Und das war anfangs alles andere als einfach. Wow! Ich sprach zu diesem Zeitpunkt kein Wort Englisch, und die Dimensionen waren für mich komplett neu. Nach 15 Mitarbeitenden in der Montana-­Küche standen im Hyatt plötzlich 200 Leute. Ich hatte echt zu beissen.

Erzählen Sie!
Ich war völlig ahnungslos. Mit 28 hatte ich in der Schweiz durch­aus Erfolge gefeiert, ein paar Wettkämpfe gewonnen, einige gute Jobs gehabt, aber in Schanghai hatte natürlich keiner auf mich gewartet. Und wegen meiner Sprachprobleme fand ich auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen nicht gleich An­schluss. Immerhin konnte ich mich mit dem österreichischen Executive Chef verständigen. Weil mein Fine­-Dining-­Restaurant noch nicht bereit war – das eröffnete zuletzt –, stellte mich der Chef in die Küche des Tea Room. Da gabs Frühstück, Mittag­essen, Afternoon Tea und Dinner. Er sagte: Du lässt die Leute hier nicht allein, bist der Erste, der morgens in der Küche steht, und der Letzte, der sie abends verlässt. Du bleibst, wo du bist, und gehst höchstens kurz zur Toilette. Meine Arbeitstage dauerten von morgens halb sieben bis Mitternacht, danach kehrte ich nur noch in mein möbliertes Appartement heim, um meine Füsse in Eiswasser zu baden. Diese ständige Müdigkeit, gepaart mit der Arbeitsbelastung und den Verständigungsproblemen, war tough, und ich erinnere mich, wie ich eines Morgens beim Rasieren völ­lig weichgekocht in den Spiegel schaute und mich fragte: Was hat dich bloss geritten, so was zu machen – und hier zu bleiben?

Und?
Sobald ich wieder in der Küche stand, war für mich völlig klar: Ich gebe auf keinen Fall auf. Es war zwar hart, aber ich erarbeitete mir den Respekt, und nach einem Jahr ging es besser. Eigentlich von dem Moment an, in dem ich aufgehört hatte, mich gegen die Situation zu wehren und zu denken, die Welt funktioniere so, wie sie es in der Schweiz tut. Das macht sie nicht, und ich musste akzeptieren, dass nicht zwingend die anderen falsch liegen. Schanghai hat mich so vieles gelehrt, vor allem auch über mich selbst. Ich wurde demütiger. Als junger, ehrgeiziger Koch mit etwas Talent hatte ich dazu geneigt, mit dem Kopf durch die Wand zu stürmen. Mit der Zeit entwickelte ich eine gewisse Ge­lassenheit, fing ich an, meine Schritte zu planen, und nahm auch mal einen Umweg in Kauf, um ans Ziel zu gelangen. Ich lernte: Die Wand ist härter als der Grind. Und vor allem erkannte ich, wie wichtig das Team ist.

Stichwort Personalführung: Sie sagen, dass diese Ihnen ganz gut liegt.
Zumindest sehe ich das so, ja. Und ich glaube, dafür spricht, dass die Menschen in meinen Teams in der Regel lange bleiben. Sie bleiben – und sie entwickeln sich. Megaschön! Schliesslich möch­ te ich als Führungsperson ja, dass die Leute mir folgen.

Wie gelingt das?
Voraussetzung dafür ist, dass man weiss, wovon man spricht und was man tut, klar. Und dann müssen meine Vision und das Ziel, das ich uns als Team stecke, Sinn ergeben. Dann kommt das Team eigentlich automatisch mit.

Mit seinem Stellvertreter Michael Althaus spürt Stefan Beer über­raschende Produkte aus der Region auf – und setzt sie in Szene.
Schwarzenegger Wagyu, Young-­Gis Kimchi minus 400 Jahre
Mit Gastgeber und Sommelier Torsten Noack stimmt sich Stefan Beer nicht nur in Sachen Weinpairing ab – aber auch.
Eyhof-­Crevetten aus Burgdorf, Steffisburger Dinkel-Farrotto

Lassen Sie uns über das Ziel reden: Ende September haben Sie das Radius by Stefan Beer eröffnet. Wo stehen Sie damit – und wohin soll es gehen?
Wir stehen am Anfang, der Weg ist noch weit. Und ich freue mich auf jeden Schritt.

Was heisst das konkret?
Ich erreiche lieber erst etwas, bevor ich darüber rede. Aber inhalt­lich ist unsere Vision hier klar: Wir möchten den Gedanken des Vo­-hie-­Menüs weiterspinnen. Als wir im Vorgängerrestaurant La Terrasse damit starteten, waren wir nicht sicher, wie der Ver­zicht auf Foie gras, Hummer und weissen Trüffel bei den Gästen ankommen würde. Inzwischen hat die Forelle aus der Region nicht nur ihren festen Platz, sondern es steht auch ausser Frage, dass sie den Steinbutt gleichwertig ersetzt. Vielleicht können wir eines Tages mit der gleichen Selbstverständlichkeit vegane Gerichte auftischen. Mir ist einfach wichtig, dass wir stolz auf das sind, was wir rundherum haben. Dieses Selbstbewusstsein gegenüber den eigenen Produkten fehlte den Köchinnen und Köchen in der Schweiz lange. Ich erinnere mich an meine Lehre; damals war es am coolsten, wenn man aus dem hintersten Winkel der Welt etwas einfliegen liess, das kein Mensch hier kannte. Dass der Trend heute anders läuft, freut mich. Mit unserem Radius von 50 Kilometern für unsere Produkte legen wir den Begriff des Regionalen auf unserem Niveau sicher eher konsequent aus.

Wobei die Grenze willkürlich gezogen ist.
Wir hätten uns auch auf den Kanton Bern beschränken können, dann stünde uns das Seeland ebenfalls zur Verfügung. Aber wir haben uns für die 50 Kilometer entschieden; vor allem, um die Aemme-Shrimps aus Burgdorf verarbeiten zu können. Die sind toll! Wie so vieles aus der Umgebung: Wagyu, Wasabisprossen, Kichererbsen, Soja, Wassermelonen – ich kann gar nicht sagen, was ich davon zurzeit am spannendsten finde. Die Produzentin­nen und Produzenten, die zum Teil extra für uns anbauen oder züchten, sind auf jeden Fall matchentscheidend.

Deren Geschichten erzählen Sie auch Ihren Gästen, stehen dafür oft am Tisch. Nehmen Sie den Mitarbeitenden im Service damit nicht etwas weg?
Das glaube ich nicht. Ich gebe etwas hinzu und bin überzeugt, dass das Gästeerlebnis davon profitiert, wenn ich als Koch persön­lich erzähle, wie die Idee für ein Gericht entstanden ist. Dabei stehle ich dem Service aber keineswegs die Show, im Gegenteil. Mir ist die Nähe zwischen Küche und Front sehr wichtig, ich binde das Serviceteam eng ein. Und ich habe kein Problem damit, einen Schritt zurückzustehen und Platz für die Menschen in mei­nem Team zu machen. Auch wenn es darum geht, Ideen, die aufkommen, in irgendeiner Form zu berücksichtigen. Ich glaube daran, dass das den Zusammenhalt im Team stärkt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Aktuell haben wir in unserem Vo­-hie-­Menü einen Gang mit Wagyu. Als ich das Gericht kreierte, blieb ich gedanklich beim Kimchi hängen und fragte unseren koreanischen Koch Young­-Gi Choi aus der Hauptküche, ob er mir eins zubereiten könne. Das Resultat war unglaublich scharf. Viel zu scharf ! Es hätte den hie­sigen Gaumen für die weiteren Gänge zerstört. In der Nachbe­sprechung merkte Young­-Gi an, dass es vor 400 Jahren in Korea noch gar kein Chili gegeben und man Kimchi entsprechend ohne zubereitet habe. Er setzte also ein weisses Kimchi an, das mit seiner milden Schärfe und Frische nun super mit dem Wagyu funktioniert. Auf der Karte ist das Gericht mit Young­-Gis Name versehen, was ihn sehr stolz macht. Und die Geschichte ist damit nicht etwa zu Ende. Anschliessend kam nämlich für Torsten Noack, unseren Gastgeber und Sommelier, der Moment zu schei­nen: Er schenkt zum Hauptgang mit Wagyu und Kimchi einen Süsswein aus – das ist frech, aber genau auf dem Level, das wir haben wollen.

Zur Person
Die Liste der Stationen, Ausbildungen und Preise in seinem Werdegang erstreckt sich über sechs Seiten. Wir fassen uns an dieser Stelle kurz. Die Kochlehre absolvierte Ste­fan Beer (44) im Restaurant Alte Post in Aarburg bei Gregor Zimmermann (heute Bellevue Palace Bern). Es folgten diverse Posten in der Schweiz, unter anderem in der Kulturquelle Krone, Bätterkinden, im At­tisholz in Riedholz, im Panorama in Steffis­burg und im Art Deco Hotel Montana in Luzern. Parallel dazu erkochte sich Beer in Einzel­ wie Teamwettbewerben die eine oder andere Medaille – bis hin zum Welt­meistertitel 2006 mit den Armeeköchen. Ein Jahr darauf zog es den ambitionierten Koch ins Ausland; nach Schanghai ins Hyatt on the Bund, in dem er unter anderem die operative Führung des Fine-­Dining­-Konzepts Vue verantwortete. Anschliessend ging es für die Hotelgruppe in flotten Schritten durch Asien: Hongkong, Bang­kok, Singapur. 2014 wechselte Beer den Arbeitgeber und übernahm im Interconti­nental Dubai Marina den Posten des Execu­tive Chef. Und zwei Jahre später zog es ihn, inzwischen verheiratet und zweifacher Va­ter, zurück in die Schweiz. Seither obliegt ihm die kulinarische Gesamtverantwortung im Victoria-­Jungfrau in Interlaken. Dazu gehört unter anderem die Leitung des im September neu eröffneten und mit 17 Punk­ten dotierten Lokals Radius by Stefan Beer, in dem im Menü Vo hie auf den Teller kommt, was im Umkreis von 50 Kilome­tern wächst und gedeiht.

Victoria-Jungfrau Grand Hotel & Spa, Höheweg 41, 3800 Interlaken, 033 828 28 28, victoria-jungfrau.ch



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