Vom wilden Terroir

Als einstige Notnahrung verkannt, finden Wildpflanzen zusehends den Weg in die Terroirküche. Zum Glück.
Text: Dominik Flammer – Fotos: Sylvan Müller / Dominik Flammer
Veröffentlicht: 06.04.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 2/2021

Die Knospen sind eine unerschwingliche Delikatesse, weil sie weder angebaut werden noch in grosser Menge verfügbar sind.

Die jungen, zarten und lindgrünen Blütenknospen der Teufelskrallen schmecken, kurz in heisser Butter geschwenkt, göttlich: Ihre Stängel platzen schon beim zarten Biss leicht und erinnern geschmacklich zugleich an grüne Erbsen und knackige Spargelspitzen. Doch die Knospen sind eine unerschwingliche Delikatesse, weil sie weder angebaut werden noch in grosser Menge verfügbar sind. Da ist es mit bekannteren Wildpflanzen wie Brennnesseln einfacher, deren Spitzen im Piemont etwa regelmässig in Form einer Tortina di punte d’ortica auf den Tisch kommen – also als Brennnesselomelette. Diese lässt sich übrigens auch mit Taubnesseln, Gutem Heinrich und unzähligen anderen Wildkräutern zubereiten.

Noch im 19. Jahrhundert gediehen Brennnesseln und Teufelskrallen genau wie auch die essbaren Glockenblumen in den heimischen Gärten. Wenige Jahrzehnte später verschwanden sie aus diesen allerdings wieder, so wie auch über Jahrhunderte angebaute Traditionsgemüse, die wir heute nur noch aus der freien Natur kennen: Winterkresse etwa, Fuchsschwanz, Weisse oder Rote Melde. Unsere Vorfahren sammelten aber auch Hirtentäschel, Sauerampfern und Wiesenbocksbart.

Längst hat die Wiederentdeckung dieser geschmacklich spannenden Vielfalt aus Feld und Wald begonnen. Bücher wie «Essbare Wildpflanzen» von Steffen Guido Fleischhauer gehören bei den Sachbüchern seit Jahren zu den Bestsellern, und die Tessinerin Meret Bissegger zählt über die Schweiz hinaus mit ihren Werken zum gleichen Thema zu den erfolgreichsten Kochbuchautorinnen. Nebst dem fast inflationär verarbeiteten Bärlauch haben die Holderblüten den Getränkemarkt erobert, Gemüsegärtner bieten gebleichten Löwenzahn an und auf den Märkten kann man mittlerweile gezupfte Brennnesselblätter kaufen oder aber sündhaft teure Portiönchen von Wildsalat-Mischungen.

Bei den Köchen und Köchinnen, die das Glück haben, dass ihnen leidenschaftliche Hobby-Kräutersammler regelmässig die Beute ihrer Streifzüge abliefern, lösen diese Delikatessen wahre Kreativitätsschübe aus. «Es macht unglaublich Freude, unsere Salate und Gerichte mit solchen Raritäten zu veredeln», schwärmt zum Beispiel Markus Stöckle vom Rosi in Zürich. Und Werner Tobler, Cuisinier im Bacchus im luzernischen Hildisrieden, strahlt über das ganze Gesicht, wenn er seinen Gästen den Korb mit den gesammelten Labkrautspitzen, Spitzwegerichknospen, Borretschblüten und Gierschblättern präsentiert, mit denen er noch am selben Tag seine Speisen ergänzt.

Während auch wilder Thymian und wilder Oregano – in der Schweiz Quendel und Dost genannt – in den bäuerlichen Küchen regelmässig genutzt wurden, begannen die Profiköche erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in die Töpfe, Gärten und Vorratskammern der Bäuerinnen zu schauen und sich von ihnen inspirieren zu lassen. In seinem Kochbuchklassiker «Guide culinaire», dem ersten grossen Standardwerk der Küche des 20. Jahrhunderts, verwendete der einflussreiche französische Koch Auguste Escoffier bereits zahlreiche Pflanzen und Kräuter, die zuvor in der gehobenen Gastronomie noch keinen Platz gehabt hatten. Zu finden sind bei ihm etwa Brennnessel-Rahm-Suppe oder Sauerampfersuppe mit Hafermehl, und selbst den damals kaum bekannten Sauerklee verarbeitete der begnadete Küchenmeister zusammen mit Béchamel zu einer schmackhaften Vorspeise.

Die Zeit der Wildpflanzen in der Gastronomie dauerte allerdings nur wenige Jahrzehnte – selbst auf dem Land, wo man während der beiden Weltkriege in der Not noch so ziemlich alles Essbare an Wildgewächsen gesammelt hatte. Tiefkühlspinat und Dosenerbsen lösten traditionelle Wildgemüse vollständig ab und liessen sie in Vergessenheit geraten. Erst in den Achtzigerjahren begannen vereinzelte Profiköchinnen und -köche, wieder mit Wildpflanzen zu experimentieren und diese in ihr Repertoire aufzunehmen. Und mit der aufstrebenden Terroirküche hat die einstige Notnahrung inzwischen einen deutlich höheren Stellenwert erreicht: Wurden die Vorreiter der Wildpflanzenküche von der Spitzengastronomie lange Zeit noch etwas belächelt, übertreffen sich die Köche und Köchinnen heute auf den kunstvoll dekorierten Tellern der Sterne-Gastronomie mit Salaten aus jungen Lindenblättern, Lasagne aus verschiedenen Nesselarten oder mit Waldmeister und Süssdolde gewürzten Parfaits.

Kurs zum Thema
Die Woche vom 7. bis 12. Juni steht im Culinarium Alpinum in Stans im Zeichen der Wildpflanzen. Auf dem Programm stehen beispielsweise eine Expedition mit Wildkräuterköchin und Autorin Meret Bissegger oder ein Dinner mit einer wilden Überraschungstavolata im Klostersaal. Auf einem Spaziergang durch Stans schärft Guerillagärtner Maurice Maggi den Blick für essbare Pflanzen am Wegrand, und auf der kleinen Tour «Essbares Stans» mit anschliessendem Mittagessen weiht die Nidwaldnerin Margreta Krummenacher ihre Gäste in die Geheimnisse der grünen Kräfte ein. Weitere Infos gibt es online. Die Plätze sind limitiert.
culinarium-alpinum.com



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