Doch was heisst eigentlich Spitze? Als ob es nur um Ausgefallenheit ginge. Man kann mit Fug und Recht daran zweifeln, dass die Gäste wirklich, ĂĽber einen kleinen Club von neugierigen Freaks hinaus, ExalÂtiertheiten, Egotrips und zuckrige Spinnereien schätzen. Andererseits: Zu Julien Duvernay ins Basler Stucki geht man ja auch, um seine filigranen SĂĽssspeisen mit Quinoa und Rucola, mit Ananas und Sellerie zu kosten, die aus der Zusammenarbeit mit Chefin Tanja Grandits entsprangen. Der Mann hat zwar ein wegweisendes Dessertbuch geschrieben, sich aber – ein Erfolgsrezept! – nie in den Vordergrund gedrängt. Irgendwie wirkt der Franzose, dessen Deutsch auch nach vielen Jahren in Basel sehr ĂĽberschaubar ist, als lebe er in seiner eigenen Welt. Apropos: Autisten der KĂĽche seien die Patissiers, raunen die eher auf Pikantes spezialisierten Köche, wenn keiner ausser den eigenen Commis hinhört und der lauschende Journalist ĂĽbersehen wird.
Allen gemeinsam ist, den halbwegs Lauten und den ganz Leisen, dass ihre Welt längst von der Technik bestimmt wird. Steamer, Pacojet und Dehydrator werden emsig genutzt, Chips hergestellt, Texturen gebildet, Gels in die Flasche gefüllt und feste Bestandteile in ihre Krümel zerlegt. Auch die modernen Zutaten sind nicht zu unterschätzen. Dass er mit Azuleta oder Crumiel arbeitet, mit Sparkys und Yopol hängt kaum ein Patissier an die grosse Glocke, nennt allenfalls Gelatine und Agar-Agar als Hilfsmittel. Am Schluss geht es leider fast immer um Konstruktionen, die gebaut werden, um einen Kanon der Gepflogenheiten. Gestern der Waldspaziergang, morgen die Mondwanderung? Irgendwo muss es eine geheime Dessertbehörde geben, die jeden süssen Teller abnimmt. Ist auch was Knuspriges drauf, was Weiches, mangelt es nicht an Eisigem und Cremigem? Nur ja alles, wie vorgeschrieben von den grossen Namen, den Kritikern, den Guides.
Und das Warme? Das frisch Gebackene? Völlig aus der Mode gekommen. Dauert zu lange, ist zu unsicher, kann auch keiner mehr. Blätterteig selbst machen, schwarzweiss marmorierte Stäbchen basteln, gar ein Soufflé à la minute an den Tisch bringen: Technik hat die Branche versaut, die fehlende Zeit für Aus- und Fortbildung macht es nicht besser. Patissier Yohan Coiffard, der sich im Le Chat-Botté in Genf auch auf Soufflés spezialisiert hat, ist eine Ausnahme. Selbst die Crème brûlée, der Goldesel der Gastronomie, wird ja oft eher lustlos zusammengestückelt. «In eine Schokoladenmousse musst du genauso viel Liebe stecken wie in ein Gemüsedessert», sagt Andy Vorbusch. Muss ja nicht so zuckrig sein wie früher, im Gegenteil. Möglichkeiten, den Zuckergehalt zu reduzieren, gibt es immer noch, die Balance zwischen Frische und dem Mindestmass an Süsse, das einem Dessert systemimmanent ist, bekommen nur wenige hin. Gegen Exotisches hat der Dolder-Koch übrigens nichts, sofern es passt. Topinambur mit fermentierter Schalotte kombiniert Vorbusch nicht aus Effekthascherei, sondern weil die Zwiebel nach einiger Zeit malzig-kaffeeartige Noten annimmt.
Wie die sĂĽsse Branche morgen und ĂĽbermorgen aussieht, ist unklar, schliesslich fällt der Posten bisweilen Sparmassnahmen zum Opfer. «Man wird sehr bekannte Geschmäcker und Komponenten präsentieren», sagt AndrĂ© Siedl, aufstrebender Chefpatissier im ZĂĽrcher Ecco, «mit zusätzlich einer Zutat, bei der man denkt, passt das? Ist das Dessert?» Kay Baumgardt spricht gern von «Kindheitserinnerungen mit dem gesunden und nicht zu sĂĽssen Twist». Und Andy Vorbusch macht deutlich, dass man ja Eis auch mal frisch drehen kann, ohne Pacojet, dass Schokotruffes auch ohne vorgefertigte Hohlkörper zu fertigen sind, dass die Sache aber so oder so Substanz haben muss. Egal ob sie mit GemĂĽse gefertigt wird, mit Leber, selbstgesammelten Waldkräutern oder der Schokolade, mit der man Gäste nach einem langen MenĂĽ gut einsammeln könne. «Experience», so Vorbusch, «ist interesÂsanter als Experiment.»